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Le Plaisir (F 1951, M. Ophüls)

 
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Rene



User seit: 25.08.2006
Beiträge: 3171

BeitragVerfasst am: 21.11.2006 12:13    Titel: Le Plaisir (F 1951, M. Ophüls) Antworten mit Zitat

gesehen am 20.11.2006 (DVD); 4/5

Schwarzfilm. Der Erzähler stellt sich vor und sagt, dass er es vorziehe, im Verborgenen zu bleiben; ein Schriftsteller werde lieber gehört als gesehen; die Dunkelheit sei immer schon sein bevorzugtes Revier gewesen. Er sei allerdings besorgt, fügt er hinzu, dass seine Geschichten vielleicht etwas zu alt sein könnten für ein modernes Publikum.

Le masque. Eine nächtliche Straße in Montmartre, vor dem „Palais de la danse“. In der Menge, die in das Etablissement strömt, eine exzentrische, sich hektisch bewegende Figur, die durch den Ballsaal auf die Bühne eilt, wo Ambroise schon erwartet wird. Er tanzt mit den anderen, aber vor allem mit der jungen Frimousse, Cancan. Dann bricht er zusammen und wird hinter die Kulissen gebracht. Ein Arzt wird herbeigeholt; er hat Mühe, die Maske zu entfernen, die der Tänzer trägt. Darunter kommt das Gesicht eines Greises zum Vorschein. Der Arzt bringt den zu Tode Erschöpften nach Hause, in eine schäbige Wohnung im Armenviertel. Sie werden schon von der Frau des alten Tänzers erwartet. Diese erzählt dem Arzt vom Leben des ehemaligen Friseurs und Frauenlieblings Ambroise; und dass sich ihr Leben darin erfülle, das seine zu erhalten, welches er dem „Plaisir“ verschrieben habe und opfere. Der Arzt kehrt zum Ballhaus zurück.

La maison Tellier. 1. Die Stammkunden der Madame Tellier und ihrer Mädchen sind frustriert: das Haus ist öd und geschlossen. Irgendwie treffen sie sich alle am Hafen, so sie nach sentimentalen Naturbetrachtungen in einen ihnen unerklärlichen Streit miteinander geraten; unversöhnt gehen sie auseinander. –
2. Ein Zug fährt durch eine idyllische Landschaft. Im Zug die Frauen des Hauses Tellier, auf der Reise zur Erstkommunionsfeier der Patentochter von Madame. Ein altes Bauernehepaar steigt zu, und während die elegante Dame Rosa träumerisch von ihrer großen Liebe, einem Vicomte, erzählt, blickt die Bäuerin mokant zum Plafond. Sie ruft ihren Mann, das alte Bäuerlein, zur Ordnung, als der beim Aussteigen den Mädchen heimlich zuwinkt. Ein Kurzwarenhändler, der ins Abteil gekommen ist, offeriert den Frauen seine exquisiten Strumpfbänder; er will sie ihnen schenken, wenn er sie persönlich anpassen darf, und wird nach der Fahrt durch einen Tunnel beim nächsten Halt mit Schimpf und seinen Koffern aus dem Zug geworfen. - 3. Die Reisegesellschaft wird von Joseph Rivet, dem Bruder von Madame, an der Bahnstation abgeholt. Im einspännigen Karren des Dorfschreiners fahren sie durch eine zauberzarte Frühlingslandschaft. Im Dorf hält Rivet auf Rosas Bitte vor der Kirche, aus der man die Kommunikanten singen hört. Den Mädchen wird von Madame ein Besuch in der Kirche verwehrt. – 4. Nachmittag und Abend im Hause Rivet. Die Mädchen sind bezaubert von der hellen Unschuld der kleinen Constance, die morgen ihre erste Kommunion empfangen soll. Die Stille ringsum lässt sie nicht schlafen. Rosa, die ewige Zigarette im Mundwinkel, holt die ebenfalls schlaflose kleine Constance zu sich ins Bett. – 5. Das Dorf strömt zur Kirche, Rivet an der Spitze seiner Frauen-Armee. Während der Zeremonie beginnt Rosa zu weinen, ihre Tränen stecken alle anderen an. – 6. Festtafel im Hofe von Rivet, der sehr betrunken ist und seine Dankrede an die Besucherinnen schon zum siebenten Male hält. Als Rosa ins Haus geht, folgt Rivet ihr und versucht sie zu vergewaltigen. Er wird von Madame Tellier, die ihn nicht aus den Augen gelassen hat, wütend aus Rosas Zimmer geworfen. Rivet kühlt seinen Kopf unter der Pumpe im Hof. – 7. Der einspännige Karren unterwegs zur Bahnstation. Die Mädchen lassen anhalten und pflücken Blumen; Rivet entschuldigt sich bei Rosa, die ein wehmütiges Lied über die Vergänglichkeit singt. – 8. Abfahrt des Zuges. Rivet versucht ihm kurz zu folgen: er und Rosa winken sich zu: à bientôt. Mit gesenktem Kopf sitzt Rivet auf seinem Karren, der ihn zu Haus, Familie und Werkstatt zurückbringen soll. – 9. Ein Lauffeuer geht durch die kleine Stadt: das Haus Tellier arbeitet wieder. Alle (Männer-)Welt eilt herbei; dem Fischhändler Tourneveau bringt man die Nachricht verschlüsselt an den Abendtisch der Familie. Ihm wird, ganz unerwartet und gegen ihre Übung, Madame Tellier zu Diensten sein: „Ce soir, je veux que tout le monde soit heureux.“

Le modèle. Der Erzähler (oder ist es ein anderer?) im On: an einem leeren herbstlichen Strand (Bretagne oder Normandie) ein Pariser Journalist, der einem Freund (und Zuhörer) die Geschichte von Jean, dem aller, und Joséphine, dem Modell, berichtet. Rückblende: Jean sieht Joséphine zum ersten Mal in einem Museum, er folgt ihr über eine Treppe nach oben und kommt mir ihr eine andere Treppe herunter. Er malt nur noch sie – und hat Erfolg. Aber die Liebe zerbricht, und Jean zieht sich, von seinem Freund, dem Erzähler, beraten, unter heftigen inneren Kämpfen zurück. Joséphine aber findet ihn in der Dachwohnung des Erzählers, droht mit Selbstmord, den Jean auf Rat des Erzählers, der unterdessen nebenan Klavier spielt, nicht ernst nimmt, und stürzt sich aus dem Fenster. – Wieder am Strand: ein gebeugter und grau gewordener Jean schiebt einen Rollstuhl, in dem die gelähmte Joséphine sitzt. Der Erzähler, von Jean seit dem Vorfall ignoriert, schließt: « Comme la vie était finie pour lui, il n’eut plus qu’à travailler. (…) Le bonheur n’est pas gai. »

«Guten Abend, meine Damen und Herren», beginnt der Erzähler, im Vorspann der deutschen Synchronfassung als Guy de Maupassant (Sprecher: Adolf Wohlbrück) ausgewiesen, „ich habe immer die Finsternis geliebt (…) Die Nacht war mein Freund.“ - „Man“, erzählt er weiter, habe lange überlegt. wie man seine drei Geschichten miteinander verbinden sollte; man habe ihn zum Beispiel fotografieren wollen, aber das habe er abgelehnt; umgekehrt habe sein Verlangen, im Dunkeln zu bleiben, Missfallen erregt, und erst als er bemerkt habe, „dass es billiger sei, da stimmte man zu“. Die Ironie ist mit Händen zu greifen. Aber sie erhellt den Schwarzfilm erst zur Bitterkeit, wenn man sich dazu den Anfang vorstellt, den Ophüls entworfen hatte – und den er beim Produzenten nicht durchsetzen konnte. Georges Annenkov hat das Konzept, ein Stück Drehbuch, publiziert, das zur Einleitung in den Drei-Geschichten-Film eine Begegnung zwischen „le cinéaste“ (Ophüls) und „la voix“ (Maupassant) im Paris „de nos jours“ vorsah und Maupassant nur als „lumière“ sehen ließ, mehr immerhin als nur Schwarzfilm. Es ist der Entwurf einer artistisch-ironischen Brechung, wie er von Ophüls später in seinem Hörspiel Gedanken über Film realisiert worden ist. So leicht ließ er einen Einfall nicht verloren gehen, zumal wenn er mit dem Wechselspiel von Präsentation und Repräsentation zu tun hatte, in der er einen gemeinsamen Grundzug aller darstellenden Medien erkannte: Theater, Radio, Film, Werbung – und zum Fernsehen ist es – leider – nicht mehr gekommen: niemand wie Ophüls hätte es auf seinen Begriff bringen können; wir hätten vermutlich ein anderes Fernsehen heute.

Mit „Le Plaisir“ stellt sich nach „La Ronde“ und vor „Lola Montez“ wieder die Frage nach der Rolle des Erzählers im Film und für den Film. Nach seiner Allmacht, der die handelnden Personen unterworfen sind. In „Le Plaisir“ ist die Rolle (zunächst) diffuser als in „Der Reigen“ und nahezu „unschuldig“, bis sie dann in der letzten Episode, „Le modèle“, ins Bild tritt und grell ausgeleuchtet wird als ein „meneur de jeu“ von mephistophelischem Zuschnitt, der seinen Faust/Jean zuerst zu Gretchen/Joséphine hinführt, Zeuge und Mitauslöser des ersten tiefgreifenden Streits bei einem von den Männern mit dem Schein von Andacht vollzogenen und von der voll Lebenslust plappernden Joséphine gestörten Spaziergang am Fluss (Osterspaziergang) wird, und der dann dem Freund „hilft“, sich ganz von seinem Gretchen zu lösen – und ihn durch seine Intervention dennoch „auf ewig“ an sie kettet. In der deutschen Synchronfassung (ebenso in der englischen) wird die Rolle des Erzählers weiter verwirrt. Sie ist bastardisiert durch einen Stimmenwechsel, der im Original nicht stattfindet. Während dort Maupassant durch den ganzen Film hindurch von Jean Servais gesprochen wird, dem Darsteller des Erzählers/Chronisten/Journalisten von „Le modèle“, nehmen die nicht-französischen Versionen einen zusätzlichen Bruch in Kauf: der Erzähler/Chronist/Journalist von Le modèle ist in der deutschen Synchronfassung nicht von Adolf Wohlbrück synchronisiert (und in der englischen nicht von Peter Ustinov). So findet hier nicht nur ein Stimmen- und Perspektivenwechsel statt, der mit der Erzählhaltung der beiden anderen Episoden nicht korrespondiert, sondern die Täterrolle des Chronisten/Journalisten erfährt eine andere Gewichtung: auch er wird abhängig von der übergeordneten Erzählperspektive „Maupassant“; auch er wird zur Figur, die der Erzähler über das Schachbrett seines ambivalenten Spiels schiebt.

Überhaupt erscheint „Le modèle“ als die unter den drei Episoden am wenigsten erzählerisch und filmisch elaborierte, trotz der stupenden Eleganz von Plansequenzen, wenn etwa (nur ein Beispiel) sich der Ankauf mehrerer Bildnisse Jeans (er malt noch immer nur Joséphine) durch den Galeristen in einer in wechselnden Einstellungsgrößen und Bildhöhen durchgedrehten Einstellung vollzieht, bei der das entscheidende Geschäft (die Übergabe des Geldes) hinter ei¬ner Bilderstellwand erfolgt. Ausgerechnet diese (immer nur im Vergleich zu den anderen) schwächere Episode enthält dennoch (?) das vielleicht größte Moment der Freiheit des ganzen Films. Joséphine, konfrontiert mit der Kälte und dem Zynismus Jeans, der ihr die Selbstmorddrohung nicht abnimmt, sondern ihr sogar noch das Fenster weist, durch das sie springen könne, rennt die kurze Treppe in der zweigeschossigen Atelierwohnung hinauf, öffnet das Fenster und stürzt sich in den Hof –: aber zu sehen ist nicht Joséphine, sondern was Joséphine sieht: die Kamera rast die Treppe hinauf, die Kamera stürzt durch das Glas der Hofüberdachung. Im Kontext von „Le Plaisir“ (und des ganzen ophülsschen Œuvres, in dem der Einsatz der subjektiven Kamera außerordentlich selten ist) signalisiert die kurze Einstellungsfolge Befreiung aus dem alles vorauswissenden Erzählgestus und aus einer melancholisch-zynischen Erwartungshaltung, die sich aus der übersatten Erfahrung des bürgerlichen Lebens genährt hat. Aber auch das noch ist eine „Befreiung“, die zum Stillstand, zum Gefängnis der Lähmung führt.

Vielleicht ist ja die einzige wirklich „freie“ Frau in „Le Plaisir“ diejenige, die selbst am wenigsten mit dem „Pläsier“ ungebändigter und obsessiver sexueller Erfüllungsgier zu schaffen hat: die Frau des Tänzers Ambroise (Le masque). Sie ist nicht mehr das Objekt der Begierde und hat die Vergänglichkeit von Zeit und Leben akzeptiert – aber auch ihre Opferrolle, ein Leben, welches von den obsessiven Bedürfnissen ihres Mannes bestimmt wird. Sie übernimmt, ähnlich wie der Erzähler/Chronist/Journalist in "Le modèle", einen Teil der Narration, ohne freilich wie der Journalist handelnd Einfluss auf ihren Ablauf zu nehmen. Ferner muss auffallen, dass sie die einzige Frau des ganzen Films ist, die nicht mit Musik assoziiert und definiert wird, weder mit Offenbach noch mit Mozart. Während der ganzen Zeit in der elenden Behausung schweigen alle Instrumente – außer der menschlichen Stimme.

Musik und Musikmontage nehmen in „Le Plaisir“ eine Funktion ein, die, mehr noch als die stets intellektuell zu kontrollierende Allmachtsattitüde des Erzählers, Verbindungen herstellt zwischen den Episoden, ihnen das gemeinsame Klima vorgibt und sie sich gegenseitig interpretieren lässt. In der Geschichte des Kinos gibt es keine andere „opérette filmée“, die der tiefen Realität von Meisterwerken wie Pariser Leben und Die schöne Helena so nahe kommt wie die Eröffnungssequenz von Le masque. Dieselben Obsessionen, derselbe luzide und unbarmherzige Blick auf die Gesellschaft der Belle Epoque finden sich dort, dasselbe Urteil über die Leere eines Universums, das sich den Launen der Bewegung um der Bewegung willen hingegeben hat, schimmert durch. Wie Offenbach stattet Ophüls sein Universum an Personen mit der Energie aus, die notwendig ist, um bis zum absoluten Ende den leidenschaftlichen Wahn auszuleben, und wie er stellt er mit Erbitterung fest, dass nichts die Maschine des Vergnügens auf ihrer Fahrt in den Abgrund aufhalten kann.

Aus dem Geist der von Lebensgier überschäumenden und sie gleichzeitig mechanisierenden und damit ihre unrettbare Mechanik anzeigenden Musik Offenbachs ist „Le Plaisir“ in der Tat geboren. Wie ein Netz über den Film gelegt sind die Quadrille (Anfang von Le masque, Ende von La maison Tellier) und die hinfällig-wehmütige Melodie des Liedes „Wie schnell ist entschwunden, die glückliche Zeit / die Tage der Liebe, wie liegen sie weit“. Sie skandiert die „partie de campagne“ der Prostituierten; sie wird von ihnen gesungen, während sie, selbst Blumen gleich, ausschwärmen auf das von Blumen übersäte Feld; sie erklingt, wenn Joseph Rivet allein in seiner blumenbekränzten Karre nach Hause fährt. Sie begleitet aber auch Joséphine (Le modèle), und sie wird mit Motiven der Quadrille verknotet, wenn der Erzähler/Chronist/Journalist sich an den Flügel setzt, um Joséphine sozusagen mit Musikbegleitung klar zu machen, dass Jean seiner Familie wegen eine andere heiraten müsse, ehe er, um den nebenan um ihr Leben Streitenden zu vermitteln, dass er ihnen nicht zuhöre, in die harten und lauten Cancan-Rhythmen fällt. Die hört man immer noch, und sie werden immer lauter, obwohl sich die Aufmerksamkeit vom Ort ihrer Produktion immer weiter entfernt, als Joséphine, „Opfer“ der offenbachschen Musik, zum Fenster zum Hof hinaufstürzt. Danach wird ihr Körper nur noch die Maske eines Körpers sein, einer Olympia (Hoffmanns Erzählungen) gleich, wie die Maske das wahre, das zerstörte Gesicht des Lebemannes Ambroise nur verdeckt.

Doch zu Offenbach gesellt Ophüls (oder auf sein Geheiß) das Komponistenpaar Joe Hayos und Maurice Yvain: Mozart. Das „Ave verum corpus“ (KV 618) ist in der Tat eine nicht nur geistliche, sondern auch eminent „körperliche“, bewegende Musik, deren Sinnlichkeit durch die Verschwisterung mit Offenbach ungemein gesteigert wird. Wiederum verklammert und „kommentiert“ die Musik in einem. Sie begleitet die letzte Einstellung des Films bis zum Finale, die letzte (Einstellungs-)Sequenz, die aus einem parallel, geradlinig und ohne jede versöhnliche, humane Arabeske gezogenen Fahrtschwenk besteht: der erfolgreich und vermögend, aber alt und leblos gewordene Jean schiebt den Rollstuhl der leblos gewordenen und endgültig zum Modell erstarrten Joséphine. Dass es sich hier um einen Opfergang handelt, assoziiert aus der ersten Zitation der mozartschen Musik: in der normannischen Kirche, bei der Feier der Erstkommunion, bei der Exekution des rituellen Aktes, der Opferung genannt wird.

Es ist die zentrale Szene nicht nur von "La maison Tellier", sondern des ganzen Films, und niemand, der jemals über den Film reflektierte, hat versäumt, sie ausführlich zu beschreiben: Guérin so gut wie Pye und Williams oder Barthélemy Amengual, der die Szene als „écriture silencieuse“ jener stillen Tapferkeit feiert, die dem „avortement de la vie“ (Maupassant) die Arbeit der Erinnerung entgegensetzt. Die Szene, zweifellos eine der bedeutendsten im Werk Ophüls’, ist eindeutig und vieldeutig zugleich, enthält den ganzen Pessimismus wie den unbeugsamen Glauben des Cineasten, vereinigt Lebensbegeisterung und Wehmut mit Hingabe an Devotionalien- und Gefühlskitsch, der durch die unverstellte Compassion veredelt wird zum Zeichen des Humanen. Arrangement und Führung der Personen, Lichtregie und Kamerabewegung, Dekor und Musik und (nicht zu vergessen) Text und Intonation des Erzählers: alles kulminiert in wenigen Minuten, mit einem zentralen Panoramaschwenk von 1’45“, zu einer der unauslöschlichsten Wegmarken der Filmgeschichte. Religion gipfelt auf zu einer Religiosität, deren Konfession die Kunst ist.

Die Kommunikanten ziehen in die Kirche ein, die Kamera begleitet sie parallel und sieht, dass sie von Anfang aneingefasst sind, mehr als nur eingerahmt, durch das Gestühl und die Erwachsenen, die den Blick auf sie verstellen. Dann geht der Blick auf die Kommunikanten nur noch durch das Gitterwerk, das den Chor der Kirche umgrenzt, und man wird sie nie anders als von fern und von hinten sehen. Sie singen „Plus près de toi, mon Dieu“ (Näher, mein Gott, zu Dir), und von ihren Stimmen getragen, steigt die Kamera einer unsichtbaren Diagonalen nach, die von in die Höhe, zum Kirchturmfenster, schwebenden Barockengeln vorgezeichnet scheint. Ein Umschnitt zeigt, aus getauchter Position, den Kirchturm von außen, „enracine la figure en pleine terre“, ehe der Blick sich wieder nach innen richtet: die Kamera gleitet eine parallele Diagonale, vorgezeichnet durch ein Arrangement von jetzt nach unten schwebenden Engeln, vom Kirchturmfenster in den Innenraum zurück. „Da geschah es“, sagt der Erzähler (Maupassant), „dass Rosa, die ihre Stirn in ihren Händen barg, plötzlich an ihre Mutter denken musste (Musikwechsel zu Mozart), an die Kirche ihres Heimatdorfes, an ihre Kommunion. Sie glaubte sich in ihre Kindheit zurückversetzt und sah sich selbst im weißen Kleid.“

Es ist, scheint mir, der Übergang von der rein sakralen, protestantisch-schlichten, wenn auch leicht süßlichen Musik zu den luziden Intonationen der mozartschen Musik, der den Übergang der Emotion ins Werk setzt: durch den Akt der Repräsentation kirchlich-liturgischer Rituale hindurch wird das Göttliche eines alle gleichermaßen umfassenden Gefühls präsentiert. Im Panoramaschwenk des „Ave verum corpus“ (dem Vorläufer des parallel gezogenen Fahrtschwenks am Ende des Films) vollzieht sich mit der liturgischen Wandlung die Verwandlung: „Wie ein Funke, der ein Feld voll reifenden Korns in Brand setzen kann, sprang Rosas Trauer und die ihrer Gefährtinnen auf alle Andächtigen über. Bald weinte die ganze Gemeinde (...) Alle waren seltsam ergriffen. Sie empfanden etwas, dessen Gewalt sich niemand entziehen kann. Sie spürten den Atem eines überirdischen Wesens.“

Hervorgerufen, hergestellt aber ist dieser „Atem eines überirdischen Wesens“ von dem überaus irdischen Wesen einer jederzeit sich ihrer Mittel bewussten filmsprachlichen Artistik. Sie übersteigt in „Le Plaisir“ an Selbstbewusstsein noch ihre Demonstration und Selbstdarstellung in „Der Reigen“. Noch jeder Schatten – etwa der, den der Erzähler/Chronist/Journalist von Le modéle an die Wand wirft und der wie die Flügel eines schwarzen Engels aussieht, wenn er von seinem Tisch aufsteht, um Joséphine die Tür zur letalen Begegnung mit Jean zu öffnen – ist Kalkül, wie die frenetischen Kranfahrten um das Haus Tellier herum, das immer nur von außen gesehen wird und in das der Blick selbst die Treppen aufwärts oder abwärts nur durch das Geviert oder die Jalousien der Fenster führt.

Die Anstrengungen der Architektur (Jean d’Eaubonne) sind enorm wie die der Kostüme (Annenkoff, i.e. Annenkov) und sie stülpt das Außen nach innen, wenn sie das Innere des Hauses Rivet zu den komplizierten Eck- und Mansardenbauten des Hauses Tellier parallelisiert, als folge sie nur einem Gebot: der Kamera (Philippe Agostini; nur die erste und dritte Episode drehte Christian Matras) einen optischen Hallraum für eine Art von Selbst-Echo auf die Außenoperationen im Hause Tellier zu bauen: die langen offenen Gänge, Stege, Treppen und Stufenfolgen im Haus Rivet vermitteln keinerlei Wohnfunktion, sie dislozieren die Plätze eher, als sie festzumachen. Gleichzeitig aber ortet der Blick der Kamera die Personen immer wieder in Umgrenzungen, die meist von Dingen vorgegeben sind: das Gitterwerk in der Kirche; die Stäbe der sonst offenen Pferdekarre, durch das Rivet und Rosa bei ihrem ersten Dialog zu sehen sind (und sich gegenseitig sehen); das Menschengewühl im Ballsaal des „Palais de la danse“, wo es einen freien, unverstellten Blick nicht geben kann. Wie eingemauert erscheinen die Menschen nicht nur vornehmlich durch ihre sozialen Gegebenheiten, sondern durch die (unsichtbare, aber unüberhörbare) Führung des Erzählers, durch Architektur und Dekor, durch Kamera-Operationen, denen sie sich anzupassen haben, durch die Musik, die ihnen, als hörten sie ihr zu, die Emotion vorschreibt.

„Le Plaisir“ verhält sich zu seinem (kritischen) Thema der Konsumption bloß noch des Lebens in den Akten der Erfüllung äußerster Lebensgier selbst konsumistisch: indem alles zur Kunst verzehrt wird. Das Gefühl tiefer Depression, das in „Le Plaisir“ vermittelt wird, entsteigt weni¬ger der in dem Film permanent ermittelten Erfahrung der unaufhaltsam entrinnenden Zeit und der (schönen) Vergeblichkeit, weniger der kannibalistischen Selbstverzehrung der Lust, weniger der Erkenntnis, dass „le bonheur n’est pas gai“ oder, wie die deutsche Synchronisation in eine Frage übersetzt: „Ist denn Glück eine reine Freude?“, als vielmehr dem Antagonismus aller Artistik: dass sie vom Leben absehen muss, indem sie einen Abhub nur des Lebens konserviert. Dass die Schönheit sich der Konsumption von Leben verdankt.
_________________
"Film is like a battleground: love, hate, action, violence, death. In one word: emotion."
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