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Age of innocence (USA 1993, M. Scorsese)

 
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Rene



User seit: 25.08.2006
Beiträge: 3171

BeitragVerfasst am: 04.01.2007 14:45    Titel: Age of innocence (USA 1993, M. Scorsese) Antworten mit Zitat

gesehen am 01.01.2007 und 07.02.2014 (DVD), 3/5

"Wie konnte ich vergessen, dass hier alles gut ist", zieht Ellen Olenska (Michelle Pfeiffer) ihr bitteres Fazit. Ihr, die nach der gescheiteren Ehe mit einem europäischen Grafen in die Heimat zurückgekehrt ist, schlägt eine Welle der Ablehnung entgegen. New Yorks High Society in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts: eine Welt der gesellschaftlichen Konventionen, Hierarchien und Symbole. Eine Welt, die die zahlreichen Seitensprünge eines ihrer Protagonisten stillschweigend duldet, während Ellens vermeintliche Affäre mit dem Sekretär ihres Mannes kaum verziehen werden kann. Doch Ellen hat Glück. Die bevorstehende Ehe ihrer Cousine May (Winona Ryder) mit dem jungen Anwalt Newland Archer (Daniel Day-Lewis) bedeutet moralische "Rückendeckung" durch zwei der angesehensten Familien der Stadt. In der Tat setzt Newland alle Hebel in Bewegung, um Ellens Integration zu beschleunigen. Er initiiert einen Empfang zu ihren Ehren bei den van Luydens, der einflussreichsten New Yorker Familie. Und er überredet Ellen als ihr Rechtsbeistand, von ihren Scheidungsplänen Abstand zu nehmen, um jedwedem öffentlichem Gerede vorzubeugen. Mit einem Mal aber sieht sich Newland, der die Partitur gesellschaftlicher Konventionen so perfekt beherrscht, selbst im moralischen Dilemma: er liebt die warmherzig-naive May, die den Moralkodex ihrer Umgebung nicht im Traum hinterfragen würde, kann aber seine heftige Leidenschaft für die "rebellische" Ellen nicht länger leugnen. Ein Handkuß, ein Blumenstrauß ohne Absender, die Gefühle angesichts einer Abschiedsszene auf der Opernbühne - Newlands tiefgreifende Verwirrung manifestiert sich in kleinen Details.

Der Film erzählt auch und vor allem von den uns so fremd vorkommenden Reglements, überwacht von der äußerst beleibten Mrs. Mingott (Miriam Margolyes) (die ihre Wohnung nicht mehr verlässt, weil sie die Teppen nicht mehr hinauf und hinunter kommt), einer Art Oberster Gerichtshof der Aristokratie, die ihren Einfluss und ihr Geld dazu einsetzt, Ehen zu stiften, Regelverstöße zu ahnden und Konflikte im Sinne der Familien zu lösen. Scorsese zeigt uns Larry Lefferts (Richard E. Grant), sozusagen „Presseorgan“ der Gesellschaft, eine männliche adlige Klatschblase, ein Wächter der Tugend, der seine Augen und Ohren überall hat, intrigiert, berichtet, dafür sorgt, dass niemand zu einer Gefahr wird. Nicht zuletzt Mr. Beaufort (Stuart Wilson), der offiziell „anständig“ verheiratet ist und von dem inoffiziell alle wissen, dass er hier und da seine Mätressen besucht. Solange er sich damit nicht in der Öffentlichkeit zeigt oder gar brüstet – was ihm nie einfallen würde –, wird sein Regelverstoß als Teil des Reglements selbst geduldet.

Martin Scorseses Interpretation des Romans der 1930 verstorbenen Schriftstellerin Edith Wharton spielt im New York der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts, in den Salons, prunkvollen Häusern, den Restaurants der ältesten und reichsten Familien der Stadt, die an allen Ecken und Enden irgendwo miteinander verwandt zu sein schienen. Eine Erzählerin (im Original: Joanne Woodward) führt uns ein in diese Kreise der Hautevolee, in ihr strenges Reglement, in ihre Gesetze, in eine Welt, in der Regeln und Regelverletzungen gleichermaßen in einem großen, ungeschriebenen Gesetzbuch geordnet sind. Edith Wharton, die selbst dieser Klasse angehörte, besaß ein feinsinniges Gefühl für die Details, komplizierten und komplexen Verhaltensmuster ihrer Klasse und schrieb mit einer guten Portion Ironie ihre Romane. Scorsese gelingt (nicht nur) durch die Erzählerin, mit dieser manchmal bitteren, manchmal bösen Ironie, die aber nicht verletzen soll, was schon verletzt ist, eine bezaubernde und zugleich erschreckende Atmosphäre zu erzeugen.

Der Film beginnt mit einem Opernbesuch, dann folgt ein Ball, wenig später der Empfang bei den van der Luydens. Opulente Höhepunkte im Leben einer Gemeinschaft, die über ein ausgeklügeltes System äußerlicher Zeichen kommuniziert. Opulente Höhepunkte auch im Film, der sich Zeit nimmt, die Spielregeln dieser Gemeinschaft unter die Lupe zu nehmen. Während sich in der Opernloge das Drama um Liebe und Entsagung anbahnt, das auf der Bühne bereits vorweggenommen wird, sucht die Kamera nach den kleinen Manifestationen jenes pompösen Spektakels, das "die Oper" - und hier die Besucher mindestens im selben Maß wie die Sänger und Musiker - an diesem Abend bietet. Ein unpassendes Kleid, eine unangemessene Verspätung, der eigenmächtige Wechsel des Gesprächspartners bei einem Empfang - die Fallstricke für Uneingeweihte sind zahlreich und gefährlich. Scorsese und sein Kameramann Ballhaus betreiben in der ersten halben Stunde Ethnologie-Kunde, vergleichbar ihrer vorherigen Zusammenarbeit in "Goodfellas" (1990). Was dort für die Welt der Mafiosi galt, funktioniert auch hier: die Faszination des schönen Scheins, die Geborgenheit in sicheren Strukturen üben eine suggestive Wirkung aus (nicht zuletzt auf die Zuschauer). Die Katerstimmung setzt ein, wenn die Figuren nicht mehr im Sinne der Konventionen funktionieren. Wenn der Protagonist plötzlich zwei Blumensträuße verschickt oder in einem Tagtraum die Umarmung mit der Cousine seiner Verlobten phantasiert. Dann spätestens gibt sich der Glanz des schönen Scheins als Symbol der Unterdrückung zu erkennen.

Dass es - dem Milieu und Geist der Geschichte entsprechend - zu heftigeren emotionalen Ausbrüchen nicht kommt, daß die Darsteller sich radikal zurücknehmen, darin liegt das für Scorsese Ungewohnte in "Age of innocence". Nicht in der Wahl eines historischen Stoffes oder gar im Thema. Newland Archer ist ein Verwandter Paul Hacketts aus "After Hours" (1985), der auf den Spuren einer schönen Frau die düster-faszinierende Seite New Yorks kennenlernt, um sich nach einer langen Nacht "erlöst" an seinem vertrauten Schreibtisch wiederzufinden; oder Scorseses Jesus-Figur in "The last temptation of Christ" (1988), die nach der Vision vom ganz "normalen" menschlichen Dasein bewusst den Weg des Todes wählt - zwei Filme, deren Happy-End-Charakter der Regisseur ausdrücklich betont hat. Entsprechend endet auch Newland Archers "Versuchung" im entscheidenden Augenblick im Verzicht, wobei die Frage nach dem glücklichen Ende einer tiefen Melancholie weicht. In den letzten Einstellungen des Epilogs erscheint Newland als trauriger, nicht aber als gebrochener Mann; im vollen Bewusstsein des Verlusts, der nur mit einem anderen Verlust hätte vermieden werden können: dem der eigenen Integrität. Auf merkwürdige Weise erscheint Newland in dieser Schlußszene ähnlich abgeklärt wie sein scheinbar entferntester Gegenpol in Scorseses Werk. der Boxer Jake La Motta am Ende von "Raging Bull" (1980): zwei Verlierer, die mit sich selbst im Reinen sind.

Zu den großartigsten Szenen dieses Films zählen jene, in denen Daniel Day-Lewis und Michelle Pfeiffer zusammentreffen. Vom ersten Augenblick an spürt man die innere Verbundenheit, die grenzenlose Leidenschaft, die Ellen und Newland füreinander empfinden. Sie sitzen während eines Empfangs auf einem Sofa, sprechen miteinander, anständig, wie es sich gehört. Aber ihren Blicken, unscheinbaren Bewegungen, ihrer Mimik ist deutlich zu entnehmen, was in ihnen vorgeht. Und: Jeder weiß es und keiner spricht darüber. Michelle Pfeiffer spielt diese nach Freiheit drängende Frau, die an den Konventionen der New Yorker Gesellschaft scheitert, weil sie sie nicht akzeptieren kann und will, mit einem unglaublichem Gespür für eine solche Situation. Sie strahlt in diesen Momenten vor innerer Schönheit, Verzweiflung und Leidenschaft zugleich. Die Begegnungen zwischen Ellen und Newland sind erotische Zusammenkünfte. Die beiden „schlafen“ miteinander, ohne auch nur ein Kleidungsstück abzulegen. Archer und Ellen scheitern an den sozialen Codes, die ihnen von Geburt an beigebracht worden sind. Es gibt keine Flucht für sie, nicht unbedingt, wie Ellen an einer Stelle meint, weil sie nicht wissen wohin sie fliehen sollten, sondern weil sie Fliehen nicht gelernt haben. Auch ihre Rückkehr nach Paris ist nicht eigentlich eine Flucht, sondern ein Rückzug, eine Kapitulation. Das Ende des Films lässt die spezifische soziale Einordnung der Hautevolee New Yorks unwichtig werden.

Für Scorsese war die Liebes- und Leidensgeschichte der beiden Hauptfiguren der Kern des Films: was ihn an Whartons Stoff interessiert hat, war "das Verlangen nach Sex, das, wie ich glaube, manchmal erfüllender sein kann, als das tatsächliche Ausleben" (Scorsese). Whartons Roman (von 1920) umkreist außerdem eine Menge der Themen, die Scorsese stets beschäftigt haben: neben Sexualität und Leidenschaft, geht es um Zurückhaltung und Unterdrückung, Erlösung oder Verdammnis. Er selbst zog die Parallele zu "Taxi Driver": "Dieser Mann (Archer) hat sich in die Cousine seiner Frau verliebt, aber er muss in seiner eigenen Welt verharren. Ich identifiziere mich wirklich damit, wie er diese obsessive Liebe verbirgt. Das ist für mich nicht allzu weit entfernt von Travis Bickles Obsession für Betsy (in "Taxi Driver")".
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"Film is like a battleground: love, hate, action, violence, death. In one word: emotion."
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