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Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (D/Ö 1972, W. Wenders)

 
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Rene



User seit: 25.08.2006
Beiträge: 3171

BeitragVerfasst am: 07.05.2019 15:06    Titel: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (D/Ö 1972, W. Wenders) Antworten mit Zitat

gesehen am 07.05.2019 (BD); 4/5

Handkes Roman im Kopf haben und Wenders‘ Bilder davor anschauen, das macht ganz schön schizophren. Was bedeutet es für den Film und für den Roman? Das Wort Maisfeld kennt jeder, aber nicht jeder erkennt im Film ein Feld in einer gelben Herbstgegend als Maisfeld. Wenders sagt, was etwas bedeutet, ist unwichtig: wie man darauf reagiert, das zählt. Bei zwei anfangen zu zählen, statt bei eins, sagt der Tormann, nicht auf das schauen, auf das zu schauen man gewohnt ist: auf den Tormann, statt auf den Stürmer und den Ball. Worauf man gewöhnlich schaut? Zum Beispiel auf das, was von einem Film übrig bleibt, wenn man ihn im Fernsehen sieht.

Anders reagieren, nicht in lange festgelegten, vorformulierten Bahnen, sondern nach einem neuen Code. Das ist nicht einfach, das zeigt der Film und man wird dabei selbst das Demonstrationsobjekt. Man möchte zuschauen, wie lange es jemand schafft, einen Apfel zu schälen, ohne dass die sich ringelnde Schale zerreißt, aber noch anderes bewegt sich im Bild und zieht die Augen weg. Man wird nervös, gereizt. Die Bilder werden einem weggenommen, wenn man sie noch behalten möchte, weil die Geschichte weitergehen muss, und deshalb beginnt die Geschichte von dem ausgeflippten Tormann, der eine Kinokassiererin umgebracht hat, einem auf die Nerven zu gehen. Wie dem Tormann und Handke die Wörter, die wie eine Marke, ein Etikett sich vor die Dinge schieben, sie zu- und festmachen.

Alles in Wenders‘ Film ist Ausschnitt, immer durch ein Fenster geschaut, das Gefilmte gerahmt. Nicht um auf Fehlendes hinzuweisen. Nicht, damit man komplettiert. Der Film bewegt sich in die genau entgegengesetzte Richtung. Er ist beteiligt an einer Bewegung, die nie komplett wird. Bloch, der Tormann, gleitet entlang an der Realität und trifft auf sie vor jeder Bezeichnung, die nur die Illusion von Vollständigkeit ist.

Blochs Ich, Bloch als Subjekt, das gibt es kaum, seine Ränder zittern. Wie eine geplatzte Matratze, heißt es mal von jemand anderem. Was man von ihm sieht im Film ist ein Pendeln. Die beiden Enden von Blochs Amplitude sind Schlafen und Durchdrehen. Es ist wie ein Einschalten und Abschalten. Wie mit den Apparaten, die in dem Film eine große Rolle spielen: Musikboxen, Fernseher, Plattenspieler, Telefone, Aufzüge. Keine bösen, entfremdeten Maschinen. Blochs Person wird dadurch weiter. Durch Hören und sehen geht er aus sich heraus. Fast ist er wie eine von den Münzen, die in die Apparate rutschen.

Man wundert sich, wie aus dem Hanke-Roman mit seinen Sprachgeschichten ein Film werden konnte, der ein Äquivalent zum Text ist. Ein Schuldiener, im Buch wie im Film, spricht im Namen der Kultur, er bedauert die Sprechunfähigkeit der Kinder. Wie „Lord Chandos“ (1901) von Hofmannsthal. Dabei reden die Dorfleute wie gedruckt, wenn Bloch sie nach dem Weg fragt. Ihre Antworten sind richtige Sprachobjekte. Handke mit seinen Wörtern und Wenders mit seinem Film landen an derselben Stelle: wo die Dinge wieder offen werden, weil sie ihre abgrenzende Bezeichnung vergessen haben. Das Gewebe von Wissen, das einen umschließt, zerreißt. Intensiveres Leben vor den Formen taucht auf, nicht nur nackte Objekte, sondern der Eindruck, den sie machen: das, was Reaktion provoziert. Wirklich materielle Emotion. „An die Gefühle erinnerte er sich nicht wie an etwas Vergangenes, sondern er erlebte sie wieder wie etwas Gegenwärtiges: Er erinnerte sich nicht an Scham und Ekel, sondern schämte und ekelte sich.“

Es gibt bei Handke noch zu viele stumme Schüler, taube Frauen und Idioten, die nur entweder arbeiten oder reden können – wie der Porthos in den „Drei Musketieren“ oder in „Vivre sa vie“ von Godard. Bei Wenders gibt es zu viele Umtöpfe aus grünem Plastik und aus dem Korb gerutschte Brötchen, das wirkt aufdringlich existenzialistisch. Aber ganz erfolgreich kann man sich wohl nicht dagegen wehren, dass Sinn entsteht, wo man ihn nicht will, der sich abhebt und in falsche Richtungen lenkt. Handke und Wenders wollen nur Vordergründe und Hintergründe, die sich voneinander abheben, damit man überhaupt etwas wahrnimmt. Bloch wundert sich darüber, dass er Leute im Freien nicht wiedererkennt, nur weil er gewohnt ist, sie in einem bestimmten Zimmer zu sehen.

Das schönste Bild bei Wenders: Bloch, der lacht über einen alt gewordenen Zehnplattenspieler. Ein Witz, würde es geschrieben bei Handke heißen.
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"Film is like a battleground: love, hate, action, violence, death. In one word: emotion."
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