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Rene
User seit: 25.08.2006 Beiträge: 3171
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Verfasst am: 08.05.2019 17:05 Titel: Maine-Océane (F 1986, J. Rozier) |
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gesehen am 08.05.2019 (DVD); 5/5
Die Fiktion sitzt dem Dokument auf, die Inszenierung der Reportage. Jacques Rozier in „Maine-Océan“ bringt das alte kinematografische Sujet der Eisenbahn, das den Rhythmus in so viele Filme brachte, zusammen mit Originalton-Recherchen, die zur klangvollen Basis den poitevinischen Dialekt haben. Es liegt nicht bloß an der geografischen Richtung, dass Monsieur Hulots Geist über dem Film schwebt – auf ihn, auf Jacques Tati gehen alle originellen Töne im französischen Nachkriegskino zurück. Die technische Zielstrebigkeit der Eisenbahn, von der die Geschichte zunächst rasant getragen wird, findet durchs Meer ihr Ende. Danach wird das Umsteigen auf andere Transport- und Kommunikationsmittel notwendig. Das gibt dem Geschichtenverlauf unerwartete Impulse.
Die Nouvelle Vague hat nie pragmatisch Filmformen inventarisiert. So verstanden, bringt man die Mühen ihrer Begriffsbestimmungen um genau die Dimension, derentwegen sie sie unternahmen. Durch unreflektierten Gebrauch leblos gewordene Formen wurden aus dem Weg geräumt, um authentischerer Kinorealität Platz zu schaffen. Sie waren keine Bildernarren. Aus ihrem Verständnis von Kino ergab sich ihr Anspruch, neue Realisten zu sein. Man braucht sich nur die Galerie ihrer verehrten und nachgeahmten Vorbilder vor Augen zu führen: Vigo, Renoir, Bresson und Rossellini. In welcher Weise deren Realismus sich von dem ihren unterscheidet, ist verkörpert in der Gestalt von Jean Rouch. Auf dessen Filmformen schaffende Beobachtungs- und Untersuchungsmethoden berufen sich Rohmer und Godard, Eustache und eben auch Rozier.
Es gibt etwas im französischen Kino, das sich als Klischee immer wieder selbst reproduziert. Diese sehr französische Art der Hingabe, eine frivole Leichtigkeit von Begegnungen zwischen den Geschlechtern vor laufender Kamera, der selbstverliebte Gestus der Herren der Schöpfung beim Anblick einer Schönen, die Lust am Plappern, das Schielen nach der frisson, die Leute wie Truffaut und Rohmer berühmt gemacht haben, auch andere, wie Billy Wilder zum Beispiel, auf der anderen Seite des großen Wassers, bei dem es ja auch häufig um Verführung und das gewisse Knistern geht. Dieses verführerische Knistern, das dem französischen Kino zu eigen zu sein scheint – und eben auch dem amerikanischen Kino der 1950er Jahre, ist fast so eine Art nationale Charakteristik. Roziers Film gehört mitten da rein. Er bedient das Bedürfnis, in einer Leichtigkeit aufzugehen, das Geschmeidige zu feiern, aber zieht dies so weit in die Länge, bis das Klischee vorgeführt und nicht ein weiteres Mal wiederholt wird, er tritt heraus. Man sitzt davor und wird von diesem kommunikativen Hyperaktionismus mitgezerrt. Es ergreift einen und eben auch nicht.
Die Meinungen müssen sich scheiden an diesem Film. Die einen erfreuen sich an diesem Improvisationsraum und den Begegnungen zwischen grundsätzlich verschiedenen Individuen, andere beklagen sich bitterlich über das Leid und die Trübsal, zum Universum dieses Films und diesem Humor nicht durchzudringen. Der Film ist ohne Zweifel sperrig, und ob er als Komödie funktioniert, bleibt Ansichtssache. Er hat ganz gewiss mit Interpretation zu tun, mit verschiedenen Sprachen, den verschiedenen französischen Akzenten, Sprachdeformationen die mit verschiedenen Berufen einhergehen, musikalischen Partituren, und erprobt dabei auch ein reichlich unkonventionelles Modell von Kino. Ein Blogger trifft die Erwartungs- und Verständnishaltung vieler, wenn er schreibt: „vielleicht wolle Rozier zeigen, dass die Menschen, trotz allem, in ihren Beziehungen diese Sprachprobleme überwinden und tolerant sein können“. Das Gegenteil ist der Fall. Rozier macht einen Film, in dem Unterschiede und Verständigungsprobleme irrelevant sind und also keine Lösung brauchen. Komisch ist natürlich, wie Kulturprodukten immerzu ein didaktischer Sinn aufgeschwatzt wird, überhaupt: Sinn. Soll denn jedes Detail, jede denkbare Ebene immer einen Sinn ergeben? Rozier sagt mit seinem Film nein, manchmal, vielleicht, und eigentlich ist es doch nicht so entscheidend.
Es gibt noch eine andere Einstiegsoption in den Film, nämlich „Maine-Océan“ als Spiegelmedium und Transportmittelanalyse zu denken – schließlich heißt der Zug, der Paris mit der Küstenstadt im Nordwesten, Saint Nazaire, verbindet – eben Maine-Océan und es geht um eine Zugfahrt auf dieser Strecke. Mit wachsender Distanz zur Metropole – wir fahren mit dem Zug von Paris gen Norden ans Meer – erlangt und breitet dieser das anthropologische Material des Provinziellen und des Akzents aus. Was ungelenk und improvisiert wirkt, ist im Grunde genommen eine ganz konsequente Form der Auslassung jeglichen übergeordneten Sinns in einer jeden Filmsequenz im streng chronologischen Verlauf. Figurenkonstellationen werden ausschließlich als Hier-und-Jetzt-Situationen von der Kamera registriert, weder historisch noch psychologisch aufgeladen oder ausgestattet, Figuren mögen eine Vergangenheit vor ihrer Sichtbarwerdung besitzen, sie hat aber ebenso wenig Einfluss auf den Verlauf der Ereignisse wie etwaige individuelle Beweggründe und Ziele. So steigt die Sambatänzerin Dejanira in Paris in den besagten Zug. Sie kommt aus Poitiers, wo sie einer Arbeit nachgeht, bei der man ihr bloßes Bein sehen kann. Aber was will das schon heißen? Die Information, dass sie in Poitiers lebt, bedeutet eben doch nur, dass sie nicht in Paris lebt, gleichwohl sie hier in den Zug steigt. Sie wird in Saint Nazaire und auf der Île-d’Yeu dabei sein und dann verschwindet sie, weil sich der Film zwischenzeitlich für jemand anderen interessiert.
Rozier bleibt ganz konsequent bei dem, was sich im Moment ereignet, ohne Flashback und Parallelmontage. Er kennt nur einen Ort und eine Zeit. Dabei ereignen sich ganz leise ganz wichtige narrative Verschiebungen. Die Hierarchisierung von Haupt- und Nebensache entfällt und macht einem narrativen Modus des gleichwertigen Nebeneinanders Platz, Relevanzen lösen sich auf und lassen den Moment für sich stehen, narrative Muster bleichen aus, an deren Stelle dokumentarische Momente erstarken, so dass sich die Ereignisse vor der Kamera entnarrativisieren und dafür mit einer beeindruckenden Genauigkeit als mögliche Fragmente einer möglichen, aber nicht zwingenden Geschichte rematerialisieren, die wie lose Fäden in der Schwebe bleiben.
Der Umgang mit dem Ton ist in diesem Kontext Schlüssel zu einem antimetropolen Sprechen wie zu einem Genre übergreifenden Verständnis des Films. Er ist das Verbindungsstück, der Treibstoff zur Aktion und Imagination. Filmhistorisch und historisch kämen damit Elemente zusammen, die die politische Aufbruchssituation der Nouvelle Vague, zu der Rozier gehörte, zusammenbrächte mit der verarbeiteten Klangweltmixtur aus Samba und Bretagne. Der Film wäre infolgedessen ein erster Film über Migration, bei dem es nicht um die großen Geschichten und Existentialismen ginge und dazu ein Film, der auch ohne moralisches Getue auskommt, sondern festhält, dass sich hier etwas längst eingefunden hat und, wie kann es auch anders sein, das filmische Bild verändert. Es ist eben nicht die Josephine Baker, die hier in einem glitzernden Pariser Club die Hüften schwingt, sondern eine gewisse Rosa-Mara Gomez alias Dejanira, die Brasilianerin, in einem Schuppen in Poitiers (den wir noch nicht einmal sehen), die an die Küste fährt und singen soll.
Die schwarze Frau ist in der französischen Provinz angekommen, auch der mexikanische Impresario, die Anwältin aus der Hauptstadt und der Kontrolleur portugiesischer Herkunft, der so tut, als verstünde er kein Brasilianisch. Der Film zeigt, wie Begegnungen unter diesen Leuten stattfinden. Ginge man nur diesen sinnigen Momenten nach, würde man allerdings das Strukturmoment des Films zum Verschwinden bringen, nämlich die permanente Auflösung Sinn stiftender Momente, die den Film davor bewahren, Sozialarbeit zu leisten, Personen eine (kulturelle) Identität und einen Handlungsraum zuzuordnen. Sperrig ist der Film, weil er keinen übergeordneten Sinn herstellen will, Identitätsformen ihm egal sind und er Freude daran hat, wenn Sinn sich einstellt, dafür zu sorgen, dass er nicht weit kommt. Es ist so, als wolle er de Saussure die Zunge herausstrecken. Das Bezeichnete („le signifié“), also die Identitätshinweise der Figuren, die wir qua Filmnarration sinnhaft wahrnehmen, findet Vergnügen daran, das für es gefundene Zeichen („le signifiant“) zu verwirren, indem es Unsinn macht.
Titelsequenz: rennende Person durchquert den Bahnhof; die Treppe hinauf und rechts zum Schalter, dann links nach hinten zu den Gleisen; eine Frau, sie trägt eine Jeans, eine Jacke im Militärschnitt. Kurzer, etwas kantiger Haarschnitt, so wie ihn Grace Jones zu der Zeit trug bzw. Cinque Lee in der Episode mit seiner Schwester Joie Lee und Steve Buscemi in „Coffee & cigarettes“ von Jim Jarmusch (der 1986 gedreht wurde). Man kann die Mode der 1980er Jahr wirklich scheußlich finden, zu breite Schulterpolster und diese elenden herauf gekrempelten Jackettärmel, die Nichtfarben, Dauerwelle, die hinten-lang-Frisuren, Bundfaltenhosen. Aber nicht „Miami Vice“, Post-Punk und diesen breiten, populären Zugang zur Androgynität. Die Frau ist ziemlich schnell. Sie erwischt den Zug in letzter Sekunde. Da war er schon am Abfahren. Wie die Kamera, die sie obenauf der Treppe erwartete und ihr zum Schalter und dann zum Gleis folgte, auch noch ebenfalls in den Zug gelangt, ist mir ein Rätsel. Ein Schnitt/Nicht-Schnitt. Der Flow bleibt und katapultiert uns in den Großraumwaggon mit den ockerfarbenen Sitzen und dem gedimmten Licht.
Begegnung mit den Schaffnern; erst redet einer, dann beide auf die Frau ein, sie hätte das Ticket nicht validiert, müsse einen Zuschlag bezahlen und was verstehe sie auch kein Französisch. Das Englisch der Kontrolleure Pontoiseau und Gallec klingt zum Schießen, eine Mitreisende mischt sich sofort ein, radebrecht ein paar Brocken Brasilianisch und legt sich mit den Kontrolleuren an, woraus sich eine erste wort- und gestenreiche Improvisation entspinnt, bei der die Wortgewalt der Dame mit dem weiten Fellmantel und dem wilden Haar die Herren massiv beeindruckt. Mimi de Saint Marc ist Rechtsanwältin, jene Art Figur, die nie die Klappe hält (doch, später). Scheinbar blindes Verständnis von Arbeitsteilung: Mimi does the talking, die Brasilianerin bracht nicht viel mehr zu machen als zu lächeln, „no comprendo“ zu sagen und mit den Achseln zu zucken. Minimalökonomie des Fremdseins. Anschlüsse werden eingefädelt: ein Rendezvous mit dem Schaffner, eine Einladung auf die Île-d’Yeu, zuvor aber noch zu Besuch bei einem Freund im Waldschlösschen und ins Gericht. In der darauf folgenden Szene, Mimi mit ihrem Klienten, Marcel Petitgas (wortwörtlich „Marcel Kleinertyp“), wird die Wortgewandtheit der Anwältin abermals in Szene gesetzt, aber vor Gericht. Diesmal formuliert sie ein unfassbares Plädoyer und wirft dabei mit soziolinguistischen Theoremen um sich, über französische Akzente und unbeabsichtigte, aber inhärente und unumgängliche Missverständnisse im Kontakt mit der Hochsprache.
Der Richter schläft fast ein. Es ist ein komisches Bild. Während das französische Establishment schlummert, entfaltet Mimi ein Bild der multikulturellen Gleichzeitigkeit des Ungleichen. Hier wird der ganze Banlieue-Trouble von heute durchexerziert, jedoch ohne Banlieue und ohne Migration, als Parteinahme für die Minderheit, für den singulären Akt, für die Abweichung vom Französisch-Klischee, als Betonung der gesellschaftlichen Differenzierung und der Dezentrierung des Wissens (Lefèbvre); Mimi argumentiert, es sei keine Straftat, jemanden, in dessen Kulturkreis man sich nicht so viel daraus mache, einander etwas ruppiger zu begegnen, ein wenig auch zu malträtieren. Es sei also keine beabsichtigte Beleidigung, sondern folge der Regel: andere Kultur, andere Sitten. Ihr Plädoyer ist ein Vortrag über multikulturelles Miteinander von Franzosen und Bretonen, die auch Franzosen sind. Der theoretische Apparat ihrer Rede ist für den Richter und die Anwesenden ebenso wenig verständlich wie die Rede des Angeklagten, dessen Akzent auch Mühe macht. Er versteht das juristische Französisch und die Regeln des Gerichts nicht und muss sich entsprechend daneben benehmen. Mimi verteidigt ihren Klienten nicht, indem sie darum bittet, ihn zu verstehen, sondern sie plädiert dafür, zu akzeptieren, dass es sich bei gestischen oder sprachlichen Äußerungen um keinen einheitlichen und allseits identischen Apparat handelt. Besser hätte man die Derrida’sche différance nicht beschreiben können. Dejanira sitzt daneben; es scheint ihr nichts auszumachen, nichts zu verstehen, während um sie herum die kulturelle Verständnislosigkeit die Figuren in den Schlaf oder in den Tumult treibt. Petitgas findet Dejanira toll. Soll das die Verbrüderung der Minderheiten sein? Das grobe Gebaren eines etwas begriffsstutzigen Seemannes? Oder einfach nur Tati-mäßig, aufgearbeiteter kleinbürgerlicher Nonsens?
Sagt Mimi zu Petitgas nach der Urteilsverkündung: „Faux pas se révolter contre le destin“, keine Revolte gegen das Schicksal. Uch! Wie kommt es zu dieser Wendung? Mimi, die sich ständig ins Zeug legt und aufbegehrt, macht aus einem Urteil Schicksal? „Maine-Océan“ rast auf Wendungen und Brüche zu, die der Filmhergang ganz unvorbereitet nimmt. Anakoluthische Momente. Sprünge und langatmige Dehnungen. Resonanzen aus „Céline et Julie vont en bateau“ von Rivette oder Roziers Zuneigung für die Filme von Jean Vigo.
Woher kommt dieses intime Licht, das Menschen miteinander verbindet, die sich gar nicht kennen? Wie kommen überhaupt diese Leute zusammen? Steckt doch ein Musiker im Kontrolleur? Armut im Reichtum? Fremdsein im Zuhausesein? Verlasse ich mich auf die Möglichkeit der verbalen Annäherung, finde ich doch nur Zugang zur intellektuellen, denkerischen Ausstattung des Films, nicht aber zu seinem ansteckenden physischen Leben. Gut, sie trinken alle ziemlich viel, machen zusammen eine improvisierte Musik, die zugleich spontan und sehr ausgefeilt, situativ und sehr geübt wirkt. Aber es passiert immer etwas Unerwartetes, und sei es, dass der Nachhauseweg des Schaffners Gallec plötzlich alle Kräfte des Films auf sich vereint und die übrigen Figuren für die letzten fünf Minuten ganz aus den Augen geraten. Der Versuch, am Montag morgen doch noch rechtzeitig zur Arbeit zu erscheinen, toppt alles. Er nimmt das Boot, dann ein anderes Boot, ein drittes und schließlich leiht er sich die hohen Wattstiefel, um an Land und dann minutenlang über die Uferstraße zu laufen. Er läuft, als wollte er einer Geliebten zueilen. Bild und Motiv, Situation und Figur klaffen auseinander, stehen unter Spannung, obgleich nichts Besonderes passiert. Die Sequenz hat etwas von einer situationistischen Provokation und man möchte ihm laut zurufen: Was soll das?! Was willst du auch arbeiten! Wo willst du überhaupt hin?
Das Ende erscheint wie das Gegenstück zu Dejaniras Lauf durch den Bahnhof zu Beginn. „Maine-Océan“ macht ein weites Fusionsfeld auf, zwischen Diskurs/Text und Körper, fiktivem und dokumentarischem Verstehen (Kamera), Improvisation und Schauspiel (Drehbuch), Spontaneität und Inszenierung (Regie), Samba und Chanson. Am offenen Set ist allerhand Platz für wechselnde Wahrnehmungspositionen und -vorlieben. Die Breite der körperlichen und mentalen Ansprache des Films ist enorm, weder vorhersehbar noch überschwänglich. Die Vielfalt der singulären Charaktere hat ein kollektives Werk, den Film eines Ensembles hervorgebracht. Das entlässt den Film aus Erzählkonventionen ebenso wie der Verpflichtung zum Autorenfilm, ohne es ihm als Schwäche auszulegen und ohne das Verführungspotential des Kinos zu schmälern. _________________ "Film is like a battleground: love, hate, action, violence, death. In one word: emotion." |
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