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Der Wind wird uns tragen (Iran/F 1999, A. Kiarostami)

 
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Rene



User seit: 25.08.2006
Beiträge: 3171

BeitragVerfasst am: 20.10.2006 10:25    Titel: Der Wind wird uns tragen (Iran/F 1999, A. Kiarostami) Antworten mit Zitat

gesehen am 19.10.2006 (DVD) und 21.09.2017 (BD); 5/5

"Und das Leben geht weiter", so heißt ein Film, den Abbas Kiarostami Anfang der neunziger Jahre im vom Erbeben verwüsteten Nordwesten Irans gedreht hat. Der Titel gilt für jede einzelne seiner Einstellungen. In Kiarostamis Filmen wird jede Bewegung von der nächsten aufgehoben, jedes Ereignis ins Verhältnis zu einem anderen gesetzt. In seinen Bildern, die manchmal nur aus Licht, Wind und Landschaft zu bestehen scheinen, ist nichts endgültig, alles bleibt in der Schwebe. Es mag diese zugleich elementare und universelle Filmsprache sein, die so unterschiedliche Regisseure wie Akira Kurosawa, Jean-Luc Godard und Quentin Tarantino an Kiarostamis Kino bewundern und bewunderten. Die Filme des iranischen Regiemeisters erzeugen einen Rhythmus, der immer wieder in die Ruhe führt, und auch wenn in ihnen allerlei Existenzielles geschieht – Verlieben, Sterben, die Vorbereitung eines Selbstmords, die Suche nach den Überleben eines Erbebens –, hat man doch am Ende immer das Gefühl, dass genauso gut nichts geschehen sein könnte.

In "Der Wind wird uns tragen" bewegt sich ein Fremder durch ein kleines iranisches Bergdorf und seine nahe Umgebung. Der Mann, ein Fernsehjournalist, wartet auf das Ableben einer alten Frau, weil er eine seltene Trauerzeremonie festhalten will. Die Sterbende bleibt den ganzen Film über unsichtbar hinter einem kleinen Fenster, doch ihr Zustand produziert immer neue Zeichen des Lebens. Kommende und gehende Verwandte, ein im Hof wachender, ebenfalls schon recht betagter Sohn, Nachbarn, die Suppe bringen.

Die kleinen Geschichten und Geschäftigkeiten um die letzten Tage eines Menschen bilden das zugleich alltägliche und sakrale Leitmotiv von "Der Wind wird uns tragen". Immer wieder führt das klingelnde Handy den Fremden auf einen nahe gelegenen Hügel. Hier oben ist der Empfang besser, und hier liegt zufällig auch der Friedhof des Dorfes. Achtlos trampelt der Mann über das Terrain. Ein anderer Mann, der nicht zu sehen ist, gräbt ein Loch und singt dabei ein Liebeslied. Der Wind trägt die heitere Melodie über die Gräber, und alles verbindet sich zu einem einzigen absurden Augenblick: Vergänglichkeit und Lebenslust, längst Verstorbene und zukünftige Tote, der Verliebte im Loch und der Zyniker oben auf der Erde, das wartende Fernsehteam und die Alte, die partout nicht sterben will und auf deren Seite wir uns längst geschlagen haben.

Weshalb wird der Journalist das Dorf nach dem Tod der Frau unverrichteter Dinge wieder verlassen? Die Antwort liegt irgendwo im Fluss von Bildern, Worten, Licht und Tönen. Dass dieser Fluss bei Abbas Kiarostami bis zur letzten Sekunde aus komplementären Bewegungen besteht, daran erinnert die letzte Einstellung. Denn natürlich braucht dieser Film, in dem so lange auf den Tod gewartet wurde, eine Beerdigung. Ein menschlicher Oberschenkelknochen, den der Fremde achtlos auf dem Friedhof eingesammelt hat, schwimmt den Bach entlang. Und das ist noch einmal ein unerhörter Augenblick.

Abbas Kiarostami bietet wie gewohnt herzlich wenig an herkömmlicher Geschichte. Salopp gesagt: Wie man sieht, sieht man nichts, oder fast nichts. Denn der geduldige Zuschauer sieht lediglich das Verrinnen der Zeit, und doch ist das eigentlich eine ganze Menge. Und er wird sich unterschiedlicher Blickrichtungen bewusst. Was für den einen die Sensation ist, ist für den anderen der Alltag; was für eine wie immer definierte Nachwelt medial erhalten bleiben soll, bleibt den Menschen, die es betrifft, ohnehin erhalten. Was zum Leben gehört, braucht nicht konserviert zu werden. Kiarostami findet hierfür ausgesprochen witzige Bildeinfälle, etwa wenn sich das klapprige Auto der Städter mehr und mehr abmühen muss, jene Höhen zu erklimmen, die für den Kontakt per Handy notwendig sind; pausenlos fährt es über staubige Landstraßen in einer unwirtlichen Gegend, während der eigentliche Kontakt in den Häusern, auf den Feldern, in den Stuben zu finden ist. Kiarostamis Film ist eine Reflexion über einen intellektuellen Anspruch, der dem Menschen den Zugang verstellt und er nicht mehr das Ziel sieht, vielmehr schon seine Idee vom Ergebnis in alle Ereignisse projiziert. Das „globale Dorf“ sucht seine Bestätigung und wird vom Leben herbe enttäuscht, denn dieses ist - gottlob - noch mit dem Leben selbst beschäftigt. Ein kluger und in seiner reduzierten Art überzeugender Film, der zwar manchmal mit seiner Schlichtheit kokettiert, gewiss aber nicht die bewahrende Kraft des Kinos leugnet und dabei das sympathische Credo des iranischen Filmemachers unterstreicht: „... auf dem Kinosessel sind wir auf unseren eigenen inneren Ratgeber angewiesen.“ Und wer lockt uns heutzutage noch ins Kino, um uns Zeit für uns selbst zu geben, um Ruhe und warme Erde zu spüren, Erdbeeren zu riechen und dem Tod bei der Arbeit zuzusehen, ohne ein Spektakel daraus zu machen?
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"Film is like a battleground: love, hate, action, violence, death. In one word: emotion."
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