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Rosetta (BEL/F 1999, J.-P. & L. Dardenne)

 
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Rene



User seit: 25.08.2006
Beiträge: 3171

BeitragVerfasst am: 20.10.2006 14:51    Titel: Rosetta (BEL/F 1999, J.-P. & L. Dardenne) Antworten mit Zitat

gesehen am 06.10.2006 (DVD); 5/5

Gerne verdrängen wir Gedanken an jene «ganz unten», die nichts haben, nichts können und nichts sind, außer vielleicht Ziffern in einer Statistik. Luc und Jean-Pierre Dardenne geben einer solchen Ziffer Namen und Gesicht: Rosetta lebt mit ihrer alkoholsüchtigen Mutter in einem Wohnwagen irgendwo mitten und doch am Rand der ersten Welt. Ihr Alltag hat keine Höhepunkte, sondern wird dominiert vom nackten Kampf ums Überleben. Daneben hat nichts Platz, nicht einmal den «Luxus» einer Freundschaft kann sie sich leisten. Auf ihrer verzweifelten Suche nach Arbeit zögert sie keinen Moment, dem ihr zugeneigten Riquet die Seine abspenstig zu machen.

Die Brüder Dardenne haben sich in Belgien (und im europäischen Film) vor allem mit ihren mittlerweile über 50 Dokumentarfilmen einen Namen gemacht. Sie widmen sich gerne sozialen Extremen, so erstaunt die Themenwahl ihres vierten Spielfilms wenig. Die Kamera rennt gewollt holpernd und stolpernd mit Rosetta durch einen düsteren Film, macht so die Zuschauer zu Zeugen. Der Film ist eine bittere Pille, kommt aber ganz ohne erhobenen Zeigefinger aus. Er regt zum Nachdenken an, die Dardennes spielen sich aber nicht zu Moralaposteln auf, sondern überlassen gekonnt alles weitere den Zuschauern. Die Rechnung geht auf: Der Schreck sitzt umso tiefer.

"Rosetta" ist Kino, wie es ungeschwätziger kaum denkbar ist: Das Gesprochene, die Anzahl der Einstellungen, die Charakterisierung der wenigen Figuren sind auf das Notwendigste eingedampft. Keine Offmusik ertönt, ein wackliges Schlagzeugsolo aus einem schabbrigen Rekorder muss genügen. Der Film lebt durch Weglassen, seine Bewegung und sein Bewegendes entsteht in den Aussparungen. Und nicht, daß "Rosetta" uns irgendetwas ersparte: die Geschichte vom arbeitslosen white trash im belgischen Niemandsland, die Geschichte vom bitteren Verrat einer Freundschaft, die Geschichte vom Vor-die-Hunde-gehen einer Persönlichkeit sind glasklar und glashart durcherzählt. Ohne Abtönung, ohne Sollbruchstelle.

Offen lassen und doch Beantworten - der Film erlangt diese seltene Balance in der Mitte zweier Erzählformen, in der Mitte zwischen subjektiver Perspektive und unbestechlichem Verhaltensprotokoll. Die Regisseure Dardenne haben Rosettas Leben in einer nahezu experimentellen Anordnung stets wiederholter Handlungen fixiert: Eine Betonröhre öffnen, die Stadtschuhe weglegen, die Gummistiefel hernehmen, die Betonröhre schließen, zum Wohnwagen gehen, die Fahrradflasche mit Wasser füllen, der betrunkenen Mutter die Schnapsflasche wegnehmen, einen Regenwurm ausgraben, den Zaun am Teich öffnen, durchkrabbeln, den Zaun wieder schließen, die Angelleine aus der Erde graben, den Haken ans Ufer ziehen, den Regenwurm aufspießen, den Köder in den Teich werfen, die Leine mit Erde abdecken, den Zaun öffnen, durchkrabbeln, den Zaun wieder schließen ... so lebt Rosetta. Und durch die Handkamera sind wir bei ihr.

Wie absichtsvoll arrangiert, wie künstlich diese leitmotivischen Wiederholungen auch sind, wir bleiben ganz nahe bei Rosetta, wir können ihre Haare riechen. Die Dardennes stellen die Technik vollständig in den Dienst glaubhafter Darstellung. Die Kamera folgt der widerborstig-schönen Emilie Dequenne, ihrem Bewegungsdrang und ihrem Innehalten, ihren Ausbrüchen und ihren raren, aber bestimmten Blicken. Rastlos durcheilt sie ihren Tagesplan und kaum etwas rührt sich in ihrem Gesicht. Und dann, als sie den Jungen, der ihr Freund sein möchte, aus dem Job gemobbt hat und an seiner statt hinter dem Imbisstresen steht - ist da ein kleines Lächeln, eine Zufriedenheit. An solchen Stellen rutscht man tiefer in den Kinosessel und gesteht, daß einen nicht nur das Dauerwirbeln der Kamera fertigmacht, sondern auch die Brutalität dieses Charakters.
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"Film is like a battleground: love, hate, action, violence, death. In one word: emotion."
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