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Belle de jour (F/I 1967, L. Buñuel)

 
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Rene



User seit: 25.08.2006
Beiträge: 3171

BeitragVerfasst am: 04.02.2007 14:09    Titel: Belle de jour (F/I 1967, L. Buñuel) Antworten mit Zitat

gesehen am 03.02.2007 und 21.02.2008 (DVD), 13.02.2008 (Kino) und 29.08./05.09.2010 (BD); 5/5

Die Wünsche, die Wirklichkeit und deren Verhältnis. Das Kino, das Phantasien in reale Bilder verwandelt.

Den Roman, der die Vorlage zum Film gab, findet Buñuel sehr schlecht. Es habe ihn gereizt, ausgehend von einer Sache, die er gar nicht möchte, eine andere zu machen, die ihm entspräche. Aus dem Roman von Joseph Kessel, der 1928 erschien, übernahm Buñuel die Konstellation der Figuren und deren Namen: Séverine, die aus Keuschheit unbefriedigte Ehefrau des Arztes Pierre Sérizy, die sich täglich von 14.00 bis 17.00 Uhr prostituiert, um ihre eheliche Liebe durch Niedriges nicht zu profanieren; Husson, einen Freund des jungen Paares, durch den Séverine die Adresse einer gewissen Madame Anaïs erfährt, die unter dem Deckmantel eines Modesalons einem intim geführten Bordell vorsteht; dann noch Marcel, einen heißblütigen und asozialen Bordellbesucher, der sich nicht damit zufrieden geben will, Séverine nur tags zu besitzen. Séverines Doppelleben – im Bordell heißt sie Belle de jour nach jenen Blumen, die nur tagsüber ihre Blüten öffnen – fliegt auf, als eines Tages Husson bei Madame Anaïs erscheint.

Hier nun beginnen, was den Verlauf der Handlung angeht, die entscheidenden Abweichungen vom Roman. Bei Kessel hetzt Séverine ihren Verehrer mit Absolutheitsansprüchen auf Husson, weil sie annimmt, der wolle ihren Ehemann über sie aufklären; das Messer trifft aber den Ehemann, der dadurch lebenslänglich gelähmt bleibt; Séverine gesteht ihm aus Reue und Rührung ihr Vergehen. Bei Buñuel schießt der junge Marcel ohne Séverines Wissen, absichtlich, aus verzweifelter Leidenschaft den Ehemann zusammen und Husson klärt in der Tat den total Gelähmten über das Doppelleben seiner Frau auf. Husson ist bei Buñuel zu einer zentralen Figur geworden. Während er im Roman, etwas pervers und ziemlich impotent, eigentlich nur die Handlung an bestimmten Stellen voranzutreiben hat, ist er Film das erklärte Gegenbild zu Séverine, die Buñuel als perfekte Simulantin darstellt; Husson ist freimütig, unverstellt, mit viel Vergnügen an der Liebe, souverän und mit sich völlig eins. In seiner Art wäre er rein zu nennen. Nur Séverine reagiert auf ihn wie die arme Seele auf den Teufel.

Gewichtiger aber als alle Abweichungen im Handlungsverlauf und in der Motivation der Figuren ist die veränderte Struktur. Buñuels Film beginnt mit einer Kutschenfahrt durch eine Parkallee, deren Bäume sich zu einem traumhaft schönen Gewölbe verschränken. Wütend über Séverines Frigidität zerrt Pierre sie aus der Kutsche, lässt sie von den Kutschern auspeitschen vergewaltigen. Dann hört man seine freundliche Stimme sagen: „Woran denkst du, Séverine?“ Die Szene ist jetzt ein sehr bürgerlich eingerichtetes Schlafzimmer, Séverine liegt im Bett und antwortet ihrem Mann wahrheitsgemäß: „An dich.“ Mit ebendiesen Sätzen endet auch der Film. Nur, während sie zu Beginn den Übergang vom Wunschtraum zur Realität markieren, fallen sie zum Schluss in Séverines Vorstellung: sie sieht ihren Mann wieder völlig geheilt, sie tritt auf den Balkon ihrer Wohnung, die mitten in Paris liegt, und unten fährt durch die inzwischen entlaubte Alle der nunmehr leere Landauer.

Sechs solcher Wunsch- oder Tagträume, die Buñuel erfunden hat, gibt es in dem Film – fünf davon haben ausgesprochen erotisch-masochistischen Charakter – und außerdem zwei Kindheitserinnerungen. Diese von Séverine vorgestellten Szenen fügen sich bruchlos, ohne irgendeine Änderung im Stil, in die fiktive Realität des Films. Bereits dieser Anfang düpiert den Zuschauer, weil ihm die eigene Leichtgläubigkeit vorgeführt wird. Eben ist er bereit, den Bildern Realität zu attestieren, da wird ihm bedeutet, dass sie bloß Phantasien sind. Aber damit noch nicht genug: das, was dann als Realität sich ausgibt, unterscheidet sich in nichts von der Imagination. Damit stellt sich der Film in einen Raum zwischen Traum und Realität, der die üblichen Kategorien von Realität und Fiktion aufhebt. Hier repräsentiert die Fiktion nicht mehr nur das, was gemeinhin als Realität gilt. Die Realität ist nicht mehr einziges Modell, einziger Ausgangspunkt der Fiktion. In Séverines Wunschträumen gibt es Elemente, die zu der Realität nie gehörten, wohl aber zu ihrer Realität.

Durch die Gleichsetzung von Traum und Wirklichkeit im Film ist die Zeit nicht mehr gerichtet. Die dargestellte Zeit repräsentiert keine chronometrische mehr. Bestimmte Bilder des Films mit ihren Zeitzeichen tun noch ein übriges, um unterschwellig die Vorstellungen von Gegenwart und Vergangenheit im Zuschauer zu verwirren: die feudalen Accessoires in Séverines Wunschträumen; der Stickrahmen, der zu Hause ihre einzige Beschäftigung zu sein scheint; ihr leidenschaftlicher Verehrer Marcel, der auftritt wie eine Mischung aus Baudelaire und Mackie Messer – während der Name der Bordellwirtin vage Assoziationen weckt an die Philhellenen des vergangenen Jahrhunderts. Alles das rückt den Film aus der Gegenwart in eine Zeit, für die es kein historisches Modell gibt.

„Das Wundervollste am Phantastischen ist, dass es das Phantastische nicht gibt.“ Diesen Satz von Breton zitiert Buñuel in einem Vortrag über die spezifischen Mittel des Kinos. Er plädiert da für die autonome Macht der Bilder und des Phantastischen, die, wie er sofort bemerkt, nicht Flucht vor der Wirklichkeit bedeuten. Buñuels Engagement ist radikaler, subversiver und perfider, als mancher von seinen treuherzigen Verehrern wie von seinen kleinkarierten Gegnern sich vorstellt. Die Welt, so wie sie ist, lehnt er ab. Die Konsequenz daraus ist, dass sie als Modell für seine Fiktion nicht in Frage kommt. Und deshalb sind seine Filme, deren Inszenierung immer hart am Rande des Schematischen und Konventionellen ist, revolutionärer als alle Filme, deren Modernität man auf den ersten Blick erkennt. Mit dem Film, mit Bildern und Tönen macht Buñuel genau das für den Film, was heute auch die einzig moderne Literatur kennzeichnet: er lehnt die heute noch allenthalben verwendeten, aus dem vorigen Jahrhundert stammenden Erzählkategorien ab, die die Raum- und Zeitvorstellungen einer Gesellschaft repräsentieren, die es längst nicht mehr gibt. Wie in der modernen Literatur die traditionelle Erzählung zerstört wird, um endlich Platz zu machen für den Text, der sich selbst Realität genug ist, setzt Buñuel Bilder und Töne zu einem Ganzen zusammen, das seinen Sinn nicht einem schon vorher Existierenden verdankt.

Wie seine Fiktion funktioniert, das lässt sich ablesen an den Mystifikationen, von denen „Belle de jour“ voll ist. Da taucht im Bordell ein asiatischer Kunde auf, der ein Kästchen mit sich führt, aus dem ein sirrender Ton aufsteigt. Sein Anblick entsetzt eine von Belles Kolleginnen, während Belle selbst ganz begeistert ist. Zweimal ist im Film von Katzen die Rede: in der ersten Traumsequenz bittet Séverine, doch nur die Katzen nicht loszulassen, und später, wenn sie von einem nekrophilen Herzog träumt, fragt dessen Diener, ob er die Katzen bringen solle. In eben dieser Sequenz liegt Séverine auch als schöne Tote mit einem Zweig Asphodillen, einer Lilienart, in den Händen im Sarg. Der Herzog verschwindet unter dem Sarg, der seltsam zu rucken beginnt. Genauso ruckt auch der Tisch in einem anderen Wunschtraum, wenn sie sich mit Husson unter einem Kaffeehaustisch zu schaffen macht, dabei ist von Asphodillensamen die Rede. Asphodillen aber heißen im französischen Volksmund auch Belles-d’un-jour. Eine andere Art von mysteriöser Referenz gibt es in der Sequenz mit Husson bei Madame Anaïs. Ein ziemlich schieches Zimmermädchen, gespielt von Muni, gesteht Husson, gespielt von Michel Piccoli, dass sie noch heute von ihm träume, worauf Husson antwortet, ihm sei das gar nicht recht. In Buñuels „Tagebuch einer Kammerzofe“ spielte Muni ein Zimmermädchen, das bei ihrem Herrn in Ungnade gefallen war, nachdem sie mit ihm geschlafen hatte. Den Herrn spielte Piccoli. Und dann gibt es natürlich auch in „Belle de jour“ all jene Dinge, die bekanntermaßen zum Buñuelschen Fetischismus gehören: die Schuhe und Stiefel und Füße. Nur für diesen Film hat er sich dann noch den Gag ausgedacht, alle wichtigen Personen mal in Tierfellen auftreten zu lassen, das heißt in Pelz- oder Ledermänteln.

Diese Mystifikationen, unaufgeklärten Referenzen und Wiederholungen bilden mit ihrer obsessionellen, traumhaften Mechanik die Fixpunkte Buñuelscher Fiktion, zwischen denen geheimnisvoll ein Sinn und ein Leben sich aufbaut, das sich sowohl jeder rationalen Verifizierung entzieht, als auch jede eindeutige Exegese zurückweist. Die „Geheimnisse einer Seele“, um die es psychologischen Romanen vom Schlage Kessels geht, meint indes Buñuel nicht. Gerade über deren Erklärungen macht er sich lustig. Diejenigen Zuschauer, die sich über die Banalität der psychologischen Erklärungen entsetzen, haben nur Recht. Diese Erklärungen haben nur zu demonstrieren, dass sie keine sind, und sie sollen beunruhigen durch ihre Klarheit. Mit der Gleichsetzung von Traum und Realität hebt Buñuel die Grenze – die gedachte – zwischen ihnen auf. Er zeigt, dass der eingleisige Weg von der Ursache zur Wirkung, vom Zeichen zur tieferen Bedeutung auch nur eine Fiktion ist. Damit wird auch die Frage nach dem Vorher und Nachher müßig über die Einsicht, dass der Sinn der Vergangenheit im gleichen Maß in der Zukunft zu suchen ist, wie deren Sinn sich aus der Vergangenheit ergibt.

„Belle de jour“ sei sein letzter Film, sagte Buñuel damals. Herbstfarben bestimmen ihn und die Atmosphäre von Abschied, von der er durchtränkt ist, wird nur erträglich dadurch, dass Buñuel seinen Spott treibt mit allem, was als hoch und heilig gilt. Dabei nimmt er sich selbst und seine Vergangenheit nicht aus. Denn, wenn man genau hinschaut, ist der liebestolle Marcel, den ein teiggesichtiger Polizist abknallt, die exemplarische Verkörperung des amour fou; und Marcels väterlicher spanischer Freund Hippolyte, gespielt von Francisco Rabal, dem keine Frau eine Männerfreundschaft wert ist und der mit nicht enden wollendem Vibrato in der Stimme die ferne Heimat besingt, die Inkarnation des Spanischen schlechthin.

Weshalb hat man immer den verkappten Christen hinter Buñuels Filmen gesucht? Gerade weil diesem Film die obligaten Ausfälle gegen die Kirche fehlen, bezeugt er Buñuels Atheismus wie kein anderer. Doch wohl, weil seine vermeintlichen Blasphemien ein Heiliges indirekt anerkannten, weil das Böse erst die Existenz des Guten beweist. In „Belle de jour“ tauschen Gut und Böse beängstigend leicht ihre Vorzeichen, so leicht wie die Fiktion und die Realität, so dass die Wahrheit in einem Schillern von Wahrheiten untergeht und der Film dröhnt von einem Gelächter, das Pierre Klossowski so erklärt: „Wenn ein Gott der einzige sein wollte, brächen alle anderen Götter in unbändiges Gelächter aus und lachten sich tot.“
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"Film is like a battleground: love, hate, action, violence, death. In one word: emotion."
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