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Sans toit ni loi (F 1985, A. Varda)

 
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Rene



User seit: 25.08.2006
Beiträge: 3171

BeitragVerfasst am: 19.05.2019 22:44    Titel: Sans toit ni loi (F 1985, A. Varda) Antworten mit Zitat

gesehen am 18.05.2019 (Kino: Ponrepo, Prag); 4/5

Die Provence, ihr Licht im Winter, ist lavendelfarben. Aber nicht wie auf den Bildern von Bonnard. In denen vibriert die Sonne. Agnès Vardas Bilder klirren vor Kälte und sind in Fujicolor. Ein Rotviolett greift um sich, weingetränkt wie die Ungeheuer, die, einem dionysischen Karneval entstiegen, der Gammlerin Mona den Rest geben. Mona ist eine Tippelschwester. Sie macht Tourismus zum Nulltarif. Die Gegend, die sie mit ihren energischen Schritten beackert, ist ein kleines Stück Hinterland der Côte d’Azur. Ihr Haus trägt sie auf dem Rücken, ein Zelt, dessen tarnfarbenes Muster dem auf den Stämmen der Platanen gleich, die eine gewichtige Rolle spielen für den Film.

Mona ist tot, wenn der Film beginnt, in Wein getaucht und erfroren. Kurz darauf entsteigt sie dem Meer. Der Film verfolgt im Rückwärtsgang, kaleidoskopisch, zusammengesetzt, die Spuren, die ihr kurzes Leben gelassen hat.

Ein vom Winterwind gleichmäßig onduliertes Stück Strand, durch den Ausschnitt der Einstellung einem Stück Wüste gleich oder auch einem sorgfältig gerechten Zen-Garten. Ein Still-Leben, eine nature morte. Das ist eines von Vardas Wörter-Bildern. Es sind lebende Bilder, die nicht im Dienst der Handlung stehen. In ihnen zieht das Sujet sich zu reiner Bildpräsenz zusammen, isoliert sich zum Klischee, zum freezed frame, zum Einzelbild. Darin ist Varda anders als ihre Zeitgenossen der Nouvelle Vague: ihre Filme hatten immer eine fotografische Grundeinstellung und einen Voluntarismus, der die Dinge im Augenblick packt und festhält. Die Kälte ist so fotografiert, dass man sie riechen kann. Die Bilder, nachdem sie Unabhängigkeit von der Anekdote erlangt haben, öffnen und schärfen andere Sinne.

Der Film schreitet fort und Mona verdreckt und verkommt. Es ist Verfall im Zeitraffer. Unser Mitgefühl für sie wird durch filmische und erzählerische Widerstände in Grenzen gehalten. Der Dreck in der Behausung der marokkanischen Fremdarbeiter zum Beispiel, in der sie für kurze Zeit Unterschlupf findet, ist eine Sache für sich, nicht dazu da, auf unwürdige und ausbeuterische Arbeitsbedingungen hinzuweisen. Der Dreck ist eine andere Lebensform, ein von unserem aseptischen unterschiedener Lebenszusammenhang. Der in einer sublimen Geste Assounas sich ausdrückt – Assouna ist ein Tunesier, der sich um sie kümmert, sie bewirtet und bekocht, ihr zeigt, wie man Weinreben beschneidet –, wenn er, nachdem sie weitergezogen ist, ihren Schal gleichzeitig an Mund und Nase führt. Eine Geste, die Geruch und Gefühl verbindet.

„Verwesung“, hat in einem berühmten Ausspruch ein berühmter Mann gesagt, „ist in der Geschichte wie in der Natur das Laboratorium des Lebens.“

Am stärksten angezogen und abgestoßen von Mona zeigt sich eine Professorin, die sie in ihrem Auto mitnimmt, eine Biologin, deren Spezialgebiet die Erforschung eines Platanenvirus ist, der, 1945 von den Amerikanern eingeschleppt, inzwischen die Platanen der Provence alarmierend bedroht. Die Platanologin, da darf man sicher sein, ist die Facette des Films, in der Varda selbst am meisten in eine Figur hineinspielt. Sonst bleibt sie durchweg mit betonten Kamerabewegungen auf Distanz, sie läuft mit Abstand neben ihrer Figur her. Monas und ihre Bewegungen bleiben zweierlei. Um zu zeigen, wie Mona die Welt sieht und nicht, wie sie sie interpretiert. Das tun die anderen, die sie gesehen haben. Am unerträglichsten der Philologe, der nach 1968 von Politik auf Natur umgesattelt hat. Der ganze Film, sagt Varda, ist ein einziges Travelling, klein gehackt, auseinander genommen und in die Lücken Abenteuer und Bewegungen eingesetzt. Eine einzige falsche Bewegung, mit der ein Zeitempfinden geschaffen wird, das nicht automatisch dem Kinoablauf folgt. Es entspricht zudem Mona: no action.

Mona ist die Hauptfigur des Films, aber nicht die Hauptsache. Wie in Vardas „Le Bonheur“ die Beschreibung des Begriffs Glück ohne Berücksichtigung psychologischer oder moralischer Erwägungen der Gegenstand war, „Glück, dieses goldene Ding“, ist es jetzt Einsamkeit, abstoßender Unabhängigkeitsdrang, rücksichtslose Bewegungsfreiheit, die Brutalität des Alleinseins. Ein junges Mädchen, das keinen Kontakt haben will, das sich kaum noch der Sprache bedient, das sich für nichts interessiert, nichts will. Die man sich nicht als Opfer anderer vorstellen muss. Die ziellos geht, bis dass sie umfällt. Mona ist mehr Symptom als Individuum. Das surreale Winterlicht zeigt die Provence von Überresten des sommerlichen Tourismus überzogen. Die Ablagerungen des Plastikzeitalters haben die ursprüngliche Landschaft entstellt. Sie wirkt amerikanisiert mit ihren haschrauchenden Dropouts, die in leer stehenden Häusern kampieren, zu deren Bezeichnung die Franzosen das amerikanische Wort squatter gebrauchen; mit lauter, meist amerikanischer Musik, die jedes Wort abschneidet. Das Dienstmädchen in seinen bunten Synthetikfummeln wirkt eher kalifornisch als mediterran, verglichen mit Pagnols Angèle, mit Jenny Hélia bei Renoir, in „Toni“. Monas Leichentuch ist eine Plastikhülle, praktisch, mit Reißverschluss und Luftlöchern.

Das betrifft die Gegenstände vor der Kamera. Zu denen kommt Vardas synthetischer Blick, wenn ihre fotografischen Bilder sich über die gemalten legen, die früher unser Bild von dieser Landschaft zusammensetzten, in der fast ein Jahrhundert lang unser Schauen und Sehen verwurzelt war. Cézanne, Renoir, van Gogh, Matisse, Braque, Picasso.

Vardas beschreibender Objektivismus ist Behaviorismus, der zu Bildern führt, die den Fotos Les Krims gleichen oder den ganzen langen Kinogeschichten, die Cindy Sherman mit einer Pose, durch einen Outfit in einem einzigen Foto erzählt. Es tritt eine im Kino unübliche Seite von Fiktion in Erscheinung, wenn Varda ihre Amateurschauspieler*innen in deren eigenen Dekors zum Reden bringt und durch die erfundene Figur der Streunerin reale Phantasien kristallisiert. Die Bilder verbinden, verwirrend, aggressive Künstlichkeit mit tiefem Naturempfinden. Der Zyklus der Jahreszeiten, sagte Varda früher einmal, hat etwas Zufriedenstellendes, gleichzeitig ist er durch und durch grausam.

Der Film ist keine Fallgeschichte, keine Identifikation nach Kriminalistenart, sein Blick in die Vergangenheit ist keine Rückblende, die Ermittlungen, die er anstellt, sind nicht detektivisch, die Aussagen der Zeugen ganz besonders falsch, weil Laien sie spielen. Anzufangen mit dem Tod des Mädchens ist eine Strategie, die keinen Tod erklärt, die auf ein abgetrenntes Stück Leben zielt. Immer, wenn Filme die Form eines Puzzles haben, geht es um Zeit. Anders als in „Citizen Kane“ von Welles sprechen hier die Zeugen zur Regisseurin, in die Kamera und in Verlängerung der Blickrichtung zu uns. Wir werden über die Blicke in die Geschichte impliziert. Was sich zusammensetzt in den betont subjektiven Zeugenaussagen, ergibt nicht Monas Porträt – die ist längst weit weg, schon tot.

Mona geht weiter, nachdem sie in ihr Grab gestolpert ist. In den Travellings verselbstständigt sich ihr Gang. Direkter als in allen Straßen-, Western- und Autofilmen konkretisiert sich Bewegung. Agnès Varda hat eine perverse Fähigkeit, verfließende Zeit in ihren Bildern zu immobilisieren. Sie sammelt sich in ihnen wie in Reservoirs. Ein pausbackiges ernstes kleines Mädchen, eine schnapsvergnügte Greisin und dazwischen die verschiedenen Alter der Frauen und ihr spezifisches Alleinsein. Eine Serie von Porträts von Weiblichkeit. Die Zeit entchronologisiert, nicht biografisch kontinuierlich von der Wiege bis zum Grab, sie ist zyklisch. So erscheint sie fast abstrakt. Kondensiert auf jeden Fall, an einem ziemlich kleinen Fleck, in relativ undramatischer Alltäglichkeit. Der Film ist Nathalie Sarraute gewidmet.
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"Film is like a battleground: love, hate, action, violence, death. In one word: emotion."
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