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Scherben (D 1921, L. Pick)

 
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Rene



User seit: 25.08.2006
Beiträge: 3171

BeitragVerfasst am: 08.06.2019 02:25    Titel: Scherben (D 1921, L. Pick) Antworten mit Zitat

gesehen am 07.06.2019 (DVD); 4/5

Carl Mayer, in Graz geboren, in London gestorben, erfand den deutschen Stummfilm, den Film ohne Zwischentitel, das Kammerspiel. Er verfasste Drehbücher für Wiene, Murnau, Pick, Jessner, von denen eines, als es 1924 bei Kiepenheuer in Berlin erschien, den Verlag „bei dem völlig neuen Charakter der Publikation vor eine Reihe von Problemen buch- und satztechnischer Art“ stellte. Noch heute wirft Mayer die brennende Frage nach Autorenschaft im Kino auf. Wo steht der Schreiber, wenn die Bilder vor die Wörter rücken. Wenn ein stummer Film „Scherben“ heißt, ist das nicht mehr die Metapher der Literatur. Die Technik ist eingebrochen in die Welt der Darstellung und hat ein Medium produziert, das zuerst aufnimmt und, auch Fiktion, dokumentiert. Der Regisseur ist Editor.

„Scherben“ ist der erste Teil einer Trilogie, zu der außerdem die Filme „Hintertreppe“ (Leopold Jessner, 1921) und „Sylvester“ (auch Lulu Pick, 1923) gehören. Mit diesen Filmen etablierte Carl Mayer den Kammerspielfilm, der eine neue filmische Einheit von Ort, Zeit und Handlung anstrebte und sich besonders für die Psychologie der wenigen auftretenden Figuren interessierte. Der Untertitel weist „Scherben“ als Drama in fünf Tagen aus.

Lulu Pick verfolgte den Anspruch, „das expressionistische Delirium zu überwinden“ und ließ sich von der „Alltäglichkeit des Lebens“ inspirieren. Mit nur leicht filmisch akzentuierten Aufnahmen wirklicher Natur, realer Objekte oder Dekors versucht er einerseits, die soziale Realität der kleinen Leute nachzuzeichnen. Andererseits lässt er die Bilder wieder in symbolischen Zusammenhängen kulminieren. Denn mit der Akzentuierung durch Licht, durch Schwenks und harte Blenden, vor allem aber durch die Heraushebung und Beziehung alltäglicher Gegenstände aufeinander schafft er eine ebenso dumpfe wie bedeutungsschwere Atmosphäre.

In die geordnete, aber monotone und weltabgewandte Welt des Bahnwärters bricht der Konflikt durch eine Telegraphennachricht ein, die einen Inspektor ankündigt. Als die Nachricht angekommen ist, zerbricht eine Scheibe. So wie diese beiden Aufnahmen montiert sind, ist klar, dass der Ankömmling die Tochter, die die Scherben zusammenkehrt, verführen und die Familie aus ihrem fragilen Gleichgewicht bringen wird.

Mayer variiert das konventionelle melodramatische Modell insofern, als zuerst die Mutter an den verinnerlichten sozialen Zwängen zerbricht. Sie erfriert vor einem Leitbild dieser Normen: dem Madonnenbild. Mit der unverrückbaren Wucht des tragischen Schicksals führt die Verletzung einer starren sozialen Norm zur familiären Katastrophe. In ungemein knappen Szenen, die immer etwas von statisch wirken und an Tafel- und Genrebilder erinnern, erzählt der Film, wie der Bahnwärter, von der Tochter aus Rachegelüsten aufgeklärt, den Inspektor erwürgt. In der Arbeit, die für ihn der Inhalt seines Lebens ist, kann er sich kurzzeitig von der zwanghaft begangenen Tat befreien. Mit einer nicht enden wollenden, kreisenden Laternen-Bewegung gibt er das Stoppsignal für einen Zug und bekennt im einzigen Zwischentitel des Films: „Ich bin ein Mörder.“ Als der Zug weiterfährt und eine Brücke passiert, wendet sich die Tochter mit leerem Blick ab. Sie flieht in den Wahnsinn.

Der Dokumentarfilmer und Filmhistoriker Paul Rotha bemerkte 1930 in „Scherben“ einen „neuen soziologischen Gebrauch des Kinos“: Mayers Kammerspiel erfasst die psychologischen Mechanismen sozial vermittelter Zwänge. Dem figuralen Grundriss und der Kommunikationsarmut der Figuren gemäß ist die inszenatorische Form und der zähflüssige Rhythmus; die durchschnittliche Einstellungslänge beträgt mehr als 16 Sekunden. Fast alle Einstellungen sind durch Blenden hart voneinander abgegrenzt, die die Hermetik des von Türen und Wänden umschlossenen Bildaufbaus durch monotone Bewegungen und durch Schweigen unterstreichen. Verbindende Blicke gibt s ebensowenig wie verbindende Bewegungen oder gar ein gleitenden Ineinandergreifen der Einstellungen. Präsentiert wird dies in einer fast reinen Form des Stummfilms: der narrativen Reihung für sich gültiger Einzelbilder.
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"Film is like a battleground: love, hate, action, violence, death. In one word: emotion."
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