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Stray Dog (J 1949, A. Kurosawa)

 
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Rene



User seit: 25.08.2006
Beiträge: 3171

BeitragVerfasst am: 24.04.2007 14:14    Titel: Stray Dog (J 1949, A. Kurosawa) Antworten mit Zitat

gesehen am 08.04.2007 (DVD); 4/5

Ein Kriminalfilm, der Suchaktionen und Verbrecherjagden nach sicherem Rezept einsetzt. Kurosawa erweist sich auch mit seinen frühen Filmen als souveräner und sinnlicher Erzähler, der eine plastische Sicht auf die Welt hat. "Der streunende Hund", das ist auch der Entwurf eines Doppelporträts, das die Verfassung einer vom Erlebnis des Krieges gezeichneten Generation im Nachkriegsjapan festhält. Es ist aber auch die Geschichte eines noch naiven Nachwuchspolizisten, der durch die Zusammenarbeit mit dem erfahrenen Kollegen Sato geformt wird.

In "Stray Dog" wird das Innere nach außen geholt. Nach dem ersten Verhör der Tänzerin, die unter Satos Fragen in Tränen ausbricht, lädt dieser überraschend Murakami zu sich nach Hause ein. Die Jagd nach dem Verbrecher tritt zurück, der abgebrühte Detektiv entpuppt sich als zartfühlender Familienvater. Kurosawa hat diesem Moment psychologisch sorgfältig vorbereitet; als das Mädchen zu weinen beginnt, erkennt Sato seine eigene Erschöpfung, die ihn zu jener Gereiztheit und Ungeduld verführt, mit der er sie in die Enge zu treiben versucht. Die Entspannung, die er sich und Murakami gönnt, belegt die Menschenkenntnis und Autorität, mit der ihn der Film ausstattet. Das Gespräch der beiden wendet sich der Kriminalität und ihren Ursachen zu, die Murakami für seine Generation als Folge des Kriegserlebnisses zu verstehen sucht. Sato hingegen, der Ältere, hält an dem Unterschied zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht fest, vor dem jeder einzelne seine Entscheidung treffe.
Der Film trägt beiden Perspektiven Rechnung, ihr Konflikt ist sein Herzstück. Es geht um die Überlagerung, Verflechtung und Kontrastierung eines einerseits sozial und historisch orientierten, andererseits moralisch-existentiellen Entwurfs menschlichen Handelns. Das schlägt sich stilistisch in einer ungewöhnlichen Synthese von Elementen des italienischen Neorealismus und des amerikanischen Film Noir nieder, den dominierenden Tendenzen des Kinos nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt. "Der streunende Hund" ist beides, Enzyklopädie der Stadt und psychologische Studie über die Zweideutigkeit der menschlichen Seele, realistisches Sitten- und imaginäres Traumbild.

Eine zweideutige, zutiefst ambivalente Figur ist vor allem der Held des Films, Murakami. Seine hartnäckige Suche nach der gestohlenen Waffe hat etwas von einer neurotischen Fixierung. Man muss ihren Verlust nicht unbedingt als Kastrationssymbol verstehen, aber das Gewicht, das der Detektiv der gestohlenen Waffe beilegt, geht doch weit über das rationale Motiv der Furcht vor beruflichen Nachteilen hinaus. Auch als der zweite Überfall geschehen ist, spricht er immer noch, wie unter Zwang, von „seinem“ Revolver, mit dem der Mord verübt worden sei; statt, wie seine schon leicht befremdeten, psychologischen Spekulationen abgeneigten Kollegen, von dem des Mörders. Ihre professionelle Unbefangenheit steht Murakami nicht zur Verfügung. Er klammert sich an die Waffe wie an eine Garantie seiner Identität und Existenz, die sich noch nicht in der Rolle des Polizeidetektivs verfestigt hat. Es ist, als sei die Entscheidung für diesen Beruf und für das „Recht“, wovon Sato spricht, jederzeit widerrufbar. Auch deshalb ist Murakami so empfänglich für die Autorität des Älteren, die ihm die Stütze eines zuverlässigen Über-Ichs beschert. Aber diese Sicherheit täuscht. Sato wird niedergeschossen, wieder mit der gestohlenen Waffe. Der versierte Psychologismus unserer Epoche entziffert darin unschwer die Symbolik eines Vatermordversuchs.

Nicht nur war im Jahr 1949, als der Film entstand, dieses freudianische Motiv längst nicht so abgegriffen, wie es uns heute erscheinen mag. Vor allem bleibt die immanente Logik des Films, von solchen außerfilmischen Bedeutungseffekten gänzlich unberührt. Sie ergeben sich beiläufig, als eine Art semantischer Überschuss, der aus dem Resonanzraum der Bilder und der Eigendynamik der erzählerischen Konstruktion entspringt. Deren Raffinement beruht auf einer modernen Fassung des romantischen Doppelgängermotivs, wie es auch von Kurosawas favorisierten Autor Dostojewskij gestaltet worden ist.
Zwischen Detektiv und Verbrecher, Murakami und Yuzo, besteht eine geheime Identität, die im Schlussbild der Verfolgungsjagd enthüllt wird – wenn der Film sie brüderlich nebeneinander ins Gras legt, am Ende ihrer Kraft, schlammverschmiert und kaum unterscheidbar. Eine Gruppe von Kindern zieht vorbei und singt ein Lied nach der Melodie von „Hänschen klein“. Suche und Flucht, die eine nur Kehrseite der anderen, sind an ihr Ende gekommen, tröstlich und ironisch zugleich untermalt von einem Kinderlied, als seien sie nur Spiel oder böser Traum gewesen.

Kurosawa, der seinen eigenen Filmen stets äußerst selbstkritisch gegenübersteht, hat zu "Der streunende Hund" bemerkt, er habe darin eigentlich nur den Charakter des Verbrechers tiefer erfasst – eine erstaunliche Äußerung, wenn man bedenkt, dass Yuzo kaum auf der Leinwand erscheint. Gewiss erfährt man im Lauf der Ermittlungen einiges über ihn – durch die Aussagen seiner Eltern, eines Kriegskameraden, seiner Freundin, durch die gefundene Tagebuchnotiz, die von einer streunenden Katze spricht, die er getötet habe; er selbst fühle sich jetzt wie diese Katze. Sato scheint diese Tiermetaphorik fortzuspinnen, wenn er Yuzo einen „streunenden Hund“ nennt – eine direkte Anspielung auf den Filmtitel –, den man aufhalten müsse, ehe er sich in einen „tollen Hund“ verwandle. Seine Gefährlichkeit bestehe darin, dass er von einem inneren Zwang voran getrieben werde. Sato denkt an eine Eskalation des Verbrechens bis hin zum Mord, auf deren Bahn sich alle rationalen und moralischen Bindungen auflösen (auch dies wiederum eine stark an Dostojewskij erinnernde Vorstellung). Die Pointe dieser Äußerung besteht darin, dass sie ebenso gut auf Murakamis manische Suche nach seinem Revolver gemünzt sein könnte.

Solche Hinweise lenken die Aufmerksamkeit auf die strukturelle Zweideutigkeit des Films im Ganzen. Die beiden Detektive stehen vor dem Problem, wie sie in der Millionenstadt Tokio einen Unbekannten finden, wie sie ihn überhaupt erkennen sollen. In Wahrheit liegt das Gesuchte vor aller Augen. Das Sichtbare entwirft das Bild eines Abwesenden. Der Zuschauer hat Yuzo kennengelernt, lange ehe er ihn erblickt: indem er Murakami gefolgt ist. Dessen ganze Suche gewinnt plötzlich einen zweiten Sinn. Sie ist nicht anderes als das Abbild des ziellosen Umherirrens, dem der Gesuchte sich überlässt. Wenn Murakami zu Beginn einen ganzen Tag lang eine Verdächtige verfolgt, eine ältere, attraktiv geschminkte Frau, von der es heißt, sie sei stark parfümiert – als sei es eine Prostituierte, die er nicht anzusprechen wagt; wenn er durch Geschäftsstraßen streift, misstrauisch beobachtet, als sei er auf eine Gelegenheit zum Diebstahl aus; wenn er in Bars und Cafés herumlungert, zunehmend verwahrlost und fiebrig erschöpft, und im Freien schläft, als habe er keine Bleibe; wenn ihm schließlich eine Pistole zugesteckt werden soll; wenn Yuzos Freundin vor ihm tanzt und dafür das Kleid anzieht, das jener ihr geschenkt hat –: dann führt der Detektiv genau die gleiche Existenz voll unruhiger Getriebenheit, erotischer Gehemmtheit und krimineller Verlockungen, in die sich sein Opfer und heimlicher Doppelgänger verstrickt hat. Murakami hat allen Grund zur Panik. Es ist, als drohte er in einem anderen Leben zu versinken, von dem er ahnt, dass es nur zufällig nicht das seine geworden ist. Die ganze, fast zehnminütige Sequenz von Murakamis Wanderung durch die Stadt, auf der Suche nach den illegalen Waffenhändlern, erhält erst aus dieser latenten Verschiebung ihren Sinn, die aus Murakami ein alter ego Yuzos werden lässt. Es ist vielleicht etwas irreführend, die Beziehung zwischen beiden als Identität zu beschreiben. Genau besehen geht es um einen Bruch in ihrer Identität, der den einen zum Spiegel des anderen macht. Es passt zu dieser Spiegelbildlichkeit, dass Yuzo als Linkshänder gekennzeichnet wird – und eben an diesem Merkmal erkannt, identifiziert wird.

Neben der psychisch-imaginären Innenseite entfaltet dieser erstaunliche Film ein detailliertes Panorama städtischen Lebens im damaligen Tokio. Denn die Stadt ist die Matrix, aus der die träumerischen Verwirrungen des Ichs und der Taumel des Verbrechens aufsteigen, und der Kriminalfilm das kanonische Genre, das in den konkreten Erscheinungen die Spuren ihrer Geheimnisse liest. Ausgehend von einem fait divers, dem Verlust des Revolvers – dem ein realer Vorfall zugrunde liegt –, erschließt Kurosawa den städtischen Kosmos in einer Kette von Episoden, zufälligen Begegnungen, Detailbeobachtungen; der Streifzug des Detektivs ist ein Beutezug der Kamera. Murakamis Suche besitzt einen dokumentarischen Aspekt, aber sie entpuppt sich vor allem als ein Vorwand für die Beobachtung der alltäglichen Sitten und Gebräuche in den armen und übelbeleumdeten Vierteln der Stadt. Es genügen Kurosawa wenige Einstellungen, um uns in ein Milieu zu versetzen, dem seine Neigungen gelten: das Milieu der Bettler, der Straßenjungen, der schmutzigen und anrüchigen Schlepper der Cabarets, der Cafés, in denen man sich einen Revolver für einen Überfall besorgen kann, kurz: eine Welt, in der es von menschlichem Elend wimmelt, und für die der Regisseur eine Passion zu empfinden scheint, die er mit ebensolchem Takt wie Zartgefühl zum Ausdruck bringt.

Kurosawa hatte vor, dieses Milieu um die Viertel der Reichen zu erweitern, was seine enzyklopädischen Absichten unterstreicht. Die Knauserigkeit seiner Produzenten machte seinen Plan zunichte. Dennoch herrscht an Figuren, Schauplätzen, Beobachtungsstoff kein Mangel. "Stray Dog", das ist auch: ein schaukelnder, überfüllter Bus, in dem die Menschen nach Atem ringen; das Polizeiarchiv, schluchtenartige Gänge zwischen steilen Aktenwänden; ein schwarzer Rost aus Holzbalken über einer Kloake, auf dem eine alternde Taschendiebin liegt und nach Jahren zum ersten Mal wieder den Sternenhimmel betrachtet; ein riesiges Stadion, in dem die Massen ein Baseballspiel verfolgen; im Publikum ein Eisverkäufer, der anhand eines Polizeifotos einen gesuchten Kriminellen identifiziert; die Hinterbühne eines Revuetheaters, auf deren Brettern sich die Tänzerinnen ausgestreckt haben, ein Durcheinander keuchender, schweißgebadeter Leiber; ein Mann, der in hilflosem Kummer über den Tod seiner Frau die Tomatenstauden zerstört, die er im Vorgarten gepflanzt hat; ein Mädchen, das in einem Vorstadtviertel eine Mozartsonate übt und nur kurz und ungläubig aufhorcht, als der Knall eines Schusses zu ihr dringt. Über allem lastet die Sommerhitze und schweißt die Menschen zu einer leidenden, kreatürlichen Masse zusammen, verwandelt die Stadt in ein Treibhaus und brütet zügellos Träume aus.
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"Film is like a battleground: love, hate, action, violence, death. In one word: emotion."
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