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El espíritu de la colmena (E 1973, V. Erice)

 
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Rene



User seit: 25.08.2006
Beiträge: 3171

BeitragVerfasst am: 28.11.2006 20:40    Titel: El espíritu de la colmena (E 1973, V. Erice) Antworten mit Zitat

gesehen jew. am 26./28.11.2006 und 08.12.2011 (DVD); 5/5

"When I’ve finished a film, it’s no longer mine - it belongs to the people." (Víctor Erice)

Es ist recht schwierig, in Worte zu fassen, was in diesem faszinierenden, subtil-poetischen Film passiert, es ist etwas, das eben nur in Filmen, im Kino, ausgedrückt werden kann. Die fragmentarische Handlung spielt in Spanien um 1940 und erzählt von den Kindern Ana und Isabel, die in einem improvisierten (Wander-)Kino in der kastilischen Kleinstadt Hoyuelos, James Whales "Frankenstein" sehen. Durch diesen Film offenbar beeindruckt und von den isoliert wirkenden Eltern nicht verstanden, bricht die kleine Ana eines Nachts auf, um einen Geist zu suchen, von dem ihre ältere Schwester behauptet, er sei zugänglich und existiere in der Nähe...

Historisch gesehen - gedreht zwei Jahre vor Francos Tod - ist der Film eine nicht leicht zu entschlüsselnde Allegorie auf Unschuld, Illusion und Isolation unter dem Schatten der Franco-Diktatur. Vor diesem Hintergrund wird die Frage nach der Identität Spaniens gestellt, eine Frage in die Vergangenheit aber auch in die Zukunft gerichtet. Am Ende des Films hört man noch einmal Ana flüstern: "Ich bin's, Ana." Ein Satz, die Aussage eines Kindes, welche womöglich auch symptomatisch ist für eine Nation, die sich nach Bürgerkrieg und anschließenden vierzig Jahren politischer Unterdrückung, Schweigen, Opportunismus und kultureller Zensur, erst wieder finden muss. Die politischen Referenzen werden nur angedeutet - immerhin bestanden 1973 immer noch die Eingriffe der Zensur; der Film wurde allerdings wegen seiner verschlüsselten Form, seiner bruchhaften Erzählweise, damals nicht gekürzt.

Obwohl die politische Aussage des Films sehr zurückgezogen ist, zeigt Erice uns das historische Trauma Spaniens im 20. Jahrhundert, die Folgen des Bürgerkriegs in verschlüsselter, subtiler Form. Das Dorf Hoyuelos mag ein Spielplatz für unachtsame Kinder sein, aber die ungepflasterten Straßen und die zerschundenen Häuser sind deutliche Zeichen des zurückliegenden Bürgerkrieges. Der Vater hört heimlich Radio über ein Kurzwellengerät, die vom Regime verboten waren, während seine melancholische Frau, einen Brief an einen Unbekannten, eine frühere Liebe, schreibt, der offenbar als Flüchtling in Frankreich festsitzt. Auch der Flüchtling, den Ana in einer verlassenen Scheune besucht und der wenig später erschossen wird (was aus der Distanz und nicht eindeutig gezeigt wird), ist sehr wahrscheinlich ein Mitglied der Widerstandsbewegung.

Erice erzählte einmal, dass die damals 6-jährige Ana Torrent, welche die gleichaltrige Ana im Film spielt, die Rolle nicht spielte, sondern tatsächlich lebte. Wir sehen die authentischen Reaktionen eines Kindes, die dunklen Augen, der traurig-fragende Blick von Ana Torrent, welche dem Film eine besondere Intimität verleihen. Ihrer kindlichen Unschuld entgegengestellt ist ihr Vater, einem Bienenzüchter, dem harte Erfahrungen ins Gesicht geschrieben stehen, gespielt von Schauspiel-Veteran Fernando Fernán Gómez, der die kühle Ernsthaftigkeit des Films um menschliche Wärme bereichert.

Der Stil des Films ist von großer Ökonomie und Zurückhaltung gezeichnet; viele Sequenzen kommen weithin ohne Dialog aus und die visuelle Gestaltung ist von bestechender Klarheit. Jedes Mitglied der Familie wird einzeln in den Film eingeführt, jeweils an unterschiedlichen Orten: das spartanische Kino, der wuselige Bienenstock, das gedämpfte Licht in dem Zimmer, in dem Teresa ihren Brief schreibt (letztere Szene erinnert in Bezug auf Lichtsetzung stark an den Maler Vermeer). Selten gibt Erice einen establishing shot, also eine übersichtliche, einführende Einstellung - somit fühlen wir uns ähnlich orientierungslos und verloren wie Ana. Nicht einmal in den 99 Minuten des Films sehen wir die komplette Familie in einer Einstellung. Wenn sie zu viert in der Szene beim Frühstück zu sehen sind, zeigt Erice sie jeweils einzeln, voneinander getrennt. Es ist, als seien vor allem die erwachsenen Figuren geistig eingeschlossen, isoliert. Ein weiteres Beispiel liefert hierfür die Szene, in der Fernando zu seiner Frau ins Bett kommt, während sie vortäuscht, als ob sie schliefe. Die Kamera verharrt auf ihrem aufmerksamen, beinahe angsterfüllten Gesicht, während ihr Mann auf Geräusche im Off und Schatten an der Wand reduziert ist.

Eine wichtige Rolle spielt das Haus: mit seiner verwitterten Steinfassade, seinem großzügigen Eingang und den altertümlichen Wappen wird hier eine geschichtsträchtige Residenz gezeigt, die zu verwildern scheint. Das durchweg dunkle Mobiliar entspricht den düsteren Öl-Gemälden, die sorgfältig nach Themen ausgewählt wurden: im Zimmer der Mädchen ist es ein Motiv mit einem Engel, der ein Kind an der Hand nimmt (ein Hinweis auf Anas Obsession); in Fernandos Arbeitszimmer hängt Saint Jerome, dargestellt als Schriftsteller, mit einem markanten Totenschädel auf seinem Tisch. Sogar das honigfarbene Licht, das durch die in sechseckige Muster aufgeteilte Fenster strömt, ist beunruhigender, als es zunächst den Anschein hat. Es erinnert zuerst an die Bienenstöcke, von denen uns Fernando erzählt, sie seien eine Art Gesellschaft der fieberhaften, sinnlosen Betriebsamkeit, eine Welt, in der es keine Toleranz für Krankheit oder Tod gäbe. Luis Cuadrados grandiose Kameraarbeit zitiert auf diese Weise die Tradition spanischer Maler wie Zurbarán, welche Andeutungen von Sterblichkeit nicht nur in Schatten, sondern auch in den Eitelkeiten des Alltags erkannte. Nicht so auffällig wie der visuelle Charakter des Films, aber dennoch bemerkenswert, ist die Tongestaltung: Erice nahm beim Drehen die Originalstimmen der Kinder auf und verwendete sie auch später als deren Stimmen im fertigen Film, eine Tatsache, die damals nicht selbstverständlich war, da es in Spanien üblich war, Kinderstimmen durch Erwachsene mit verstellter Stimme nachzusynchronisieren. Besonders in den Szenen, in welchen die beiden Kinder zueinander flüstern, trägt dies maßgeblich zur Atmosphäre bei.

Ansonsten wird der Ton häufig verwendet, um das Horror-Genre zu zitieren: Wenn die beiden Kinder sich leise über Geister unterhalten – eine Kerze flackert zwischen den beiden -, hört man laute Schritte im Off (es ist nur der auf- und abgehende Vater in einem Zimmer nebenan). Die unvergessliche Musik des Films, von Luis de Pablo, setzt sich aus unheimlichen Melodien (wie das eindringliche Flöten-Motiv) und eher vertrauten Klängen von Kinderliedern zusammen. In der Schluss-Szene blickt Ana direkt in die Kamera, wenn wir ihre trotzige Beschwörung des mysteriösen Geistes hören: „Soy Ana“.
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"Film is like a battleground: love, hate, action, violence, death. In one word: emotion."
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