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Short Cuts (USA 1993, R. Altman)

 
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Rene



User seit: 25.08.2006
Beiträge: 3171

BeitragVerfasst am: 22.01.2007 23:56    Titel: Short Cuts (USA 1993, R. Altman) Antworten mit Zitat

gesehen am 21.01.2007 und 19./21.05.2012 (DVD); 5/5

Ein Film von über drei Stunden Länge, basierend auf neun Kurzgeschichten und vollgestopft mit Schauspielern, die stolz auf ihr individuelles Profil sind. Wer angesichts solcher Ausgangsinformationen Unlustgefühle haben mag, sollte wissen, daß - wie schon bei "The Player" (s. Filmtagebuch) - die Titelsequenz ausreicht, um jede Form von Skepsis in ihr Gegenteil zu verwandeln. Robert Altman scheint sich darauf kaprizieren zu wollen, gleich zu Beginn seiner Filme kleine Lehrstücke in Filmkunst abzuliefern, die unzweifelhaft Geschichte machen werden. "Short Cuts" beginnt er mit nächtlichen Tele-Aufnahmen von Hubschraubern. die über den Wohnvierteln von Los Angeles Insektizide gegen die schädliche "Medfly" versprühen, jedem Bürger der Stadt ein allzu gut erinnerlicher Albtraum, dem auch nicht Einhalt geboten wurde, als Gerüchte aufkamen, die für Insekten tödlichen Chemikalien könnten im Menschen krebserregend wirken. Die Opfer der nächtlichen Sprühaktion im Film sind die 22 Helden der Handlung, aufgescheucht durch Lärm und Gestank der Aktion, selbst wie Insekten in oft panischer Unordnung durcheinanderrennend - eine Sequenz von ebenso surrealen wie apokalyptischen (und satirischen) Dimensionen. Aber eben doch Realität!

Wenn das bohrende Geräusch der sich in den dunklen Himmel schraubenden Rotorflügel erstirbt, hat der Zuschauer bei allen Leuten hereingeschaut. deren Geschichten ihn für die nächsten drei Stunden beschäftigen werden, und weiß bereits, daß eines sie alle eint: sie sind Einwohner dieser irrsinnigen, singulären Hochburg des Amerikanismus kalifornischer Prägung. Und natürlich haben nicht nur sie die Stadt, sondern auch die Stadt hat sie geprägt. Bis zum Schluß des Films läßt Altman sich Zeit. ehe er erneut auf die Lokalität verweist. Wieder ist es ein Bild, das wie ein Synonym für diese Stadt der humanen und sozialen Gegensätze steht - ein Erdbeben der Stärke 7,4 auf der Richter-Skala. Wieder auch eine satirische. surreale und apokalyptische Szene. Zwischen den beiden Polen verästeln und verzahnen sich in außerordentlicher artistischer Kunstfertigkeit die Geschichten aus dem Leben dieser 22 Personen, die Altman als Repräsentanten des Insektenzeitalters ausgewählt hat, zu denen sich immer andere, immer neue hinzugesellen, kaum noch zu zählen, aber dennoch nie verwirrend. Es ist wie ein Hieronymus-Bosch-Gemälde, auf dem unendlich viele Gruppen und Einzelschicksale verteilt sind, ohne daß die Übersicht verlorengeht.

Die Vorlage lieferten neun Kurzgeschichten von Raymond Carver, eines Meisters der kondensierten Form und der Vorliebe für die "Working Poor". Doch Altman wäre nicht Altman, hätte er die Storys nur in Film übersetzt. Carvers Geschichten fehlt zum Beispiel schon der Hauptaspekt des Films: sie spielen nicht in Los Angeles, sondern im amerikanischen Nordwesten. Was Altman an ihnen gereizt haben mag. ist vermutlich ihr nüchterner, weder romantisierender noch politisierender Stil. Auch Altman läßt sich nicht auf politische Themen ein, obwohl sie stets nur eine Handbreit von seinen Geschichten entfernt liegen: selbst Rassismus - ein in Los Angeles kaum wegzudenkender Aspekt - taucht nur am Rande auf. Doch man empfindet die Einengung nicht als Mangel, nur als Konzentration auf eine Insektenart, die Altman besonders vertraut ist. Nicht der Text der Novellen, sondern der Geist von Carvers Arbeiten ist es, der sich in "Short Cuts" wiederfindet, hundertfach formal verändert, variiert und umgeprägt, Ausdruck von Ironie und Tragik zugleich.

Mit einer Ausnahme sind alle Handlungen Ehe-Geschichten (und die Ausnahme ist eine Mutter-Tochter-Story). Den Einstieg liefern einer der Helikopter-Piloten und ein Fernsehkommantator. Hinzu gesellen sich ein untreuer Polizist, eine Kellnerin in einem Schnellrestaurant, ein sexuell frustrierter Pool-Reiniger, eine Künstlerin mit unterdrückter Vergangenheit, ein weiblicher Geburtstagsclown etc. etc. Gemeinsam ist ihnen allen, daß ihre Partnerschaften am Rand des Ruins stehen. Doch Altman lamentiert nicht über den Verlust zwischenmenschlicher Beziehungen, die einmal als Traum vom Glück begonnen haben müssen, oder über die gegenseitige Ausbeutung von Menschen und Gefühlen. Vielmehr beschreibt er den fortschreitenden Verfall mit der kühlen Genauigkeit eines Beobachters, der äußerlich komisch wirkenden, weil logisch unbegreiflichen Aktionen im Verhalten einer unerforschten Insektenart auf die Spur zu kommen versucht. Die Kamera, die ihm als Mikroskop dient, fängt alle Exaltationen und Frustrationen der Spezies Los-Angeles-Mensch ein und kondensiert sie zu einem Kammerspiel der Fatalitäten, deren absichtsvolle Potenzierung die Moral gleichsam durch Auslassung nachliefert. Je länger man den absichtlichen und unabsichtlichen Feindseligkeiten beiwohnt, um so deutlicher verspürt man, daß etwas fehlt im Leben dieser Menschen, die nicht nur andere, sondern auch sich selbst zerstören.

Altmans Film ist so aufregend und kurzweilig, weil er die Sichtung zum Erlebnis macht. Im Prinzip genügt es, einfach da- und dabeizusein. Wer Leute kennenlernt, wird auch nicht verlangen, sogleich mit ihren kompletten Karrieren versorgt zu werden. Charaktere sind zu entdecken. Daher sind in diesem Film die Rollen nicht ausdefiniert. Die Kamera, und das ist typisch für Altmans Regiekünste, folgt dem Darsteller, niemals muss er (sie) sich in die vorgegebene fixe Position fügen. Die sensationell sensible Kamera (Walt Lloyd) unterläßt es strikt, die sonst übliche überschießende Bedeutung zu produzieren oder doch zu transportieren. Entsprechend versagt es sich der (offene) Plot, Herrschaft auszuüben. Die Dialoge sind herrschaftsfrei. Ähnlich dem Libretto der Oper ist es nicht das Was der Texte, sondern das Wie des Ausdrucks, der Gesten, des Rhythmus, der Bewegung, des Gebrauchs der Töne, das in uns Beteiligung auslöst. Deswegen tut sich jeder, der ins Kino geht, das größte Unrecht an, wenn er nicht die Originalfassung sieht. Man braucht wirklich nicht jedes Wort von Tom Waits zu verstehen und zu übersetzen. Waits spielt in diesem Arbeiter-Geschichten-Film einen Fahrer, der mit einer Kellnerin (Lily Tomlin) in einer sinusartig verlaufenden, von (reichlichem) Alkoholkonsum bestimmten Beziehung steht.

"Short Cuts" ist Altmans "Nashville" (s. Filmtagebuch) der 90er Jahre, ähnlich nicht nur in seinem panoramischen Stil, sondern auch in der distanzierten Bestandsaufnahme. Es ist die formale Anlage, die scheinbar unzusammenhängende Geschichten und Schicksale immer dichter ineinander verwebt, der beide Filme ihre gesellschaftliche Relevanz verdanken. Für sich genommen, wären es alles nur satirische Splitter, doch in der - wie zufällig sich ergebenden - Verzahnung entsteht ein zutiefst beunruhigendes Porträt menschlicher Beziehungen, die an Oberflächlichkeit und Kommunikationslosigkeit, an Entfremdung und Unaufmerksamkeit ersticken. Die Menschen leben miteinander, kriegen Kinder miteinander, reden und streiten miteinander, aber es fehlt ihnen jede Verantwortlichkeit, jede Scham und jede Intimität. Insekten am Rande des Erdbebens.
_________________
"Film is like a battleground: love, hate, action, violence, death. In one word: emotion."


Zuletzt bearbeitet von Rene am 28.05.2012 14:09, insgesamt 5-mal bearbeitet
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Michéle
Gast





BeitragVerfasst am: 23.01.2007 09:04    Titel: Antworten mit Zitat

Ich sollte vielleicht doch irgendwann mal weitergucken... Wink So 20 Minuten hab ich schon Smile
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